von Karsten Krampitz
„Da ist es endlich“, jubelte der Südwestfunk, „ein Buch von Frauen über Frauen, das Maßstäbe setzt.“ Die neue Form der Schwesterlichkeit, die da von drüben käme, lasse sich nicht in Westpaketen aufwiegen. Das ewige Manko jeder Kunst, ihre Künstlichkeit, in diesem Buch schien es vergessen zu sein. Nicht um Erbauung oder Erziehung ging es, sondern schlicht um Erfahrung – der Anbruch der Wirklichkeit in der Literatur.
Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ war einmal das vielleicht berühmteste Werk der DDR-Literatur. In ihm erzählen neunzehn Frauen im Alter von 16 bis 92 Jahren von ihrem Hunger nach Leben, ihrer Sehnsucht und der Verständnislosigkeit der Männer. Noch im Erscheinungsjahr 1977 verkaufte es sich über 60.000 Mal. Eine Schallplatte folgte und etliche Theateradaptionen. 1980 war „Guten Morgen, du Schöne“ in der DDR der meistgespielte Text unter den Stücken ostdeutscher Dramatiker, noch vor Peter Hacks und Heiner Müller. Dabei hatte die Autorin eigentlich nichts weiter getan als zuzuhören und die Interviews zu Monologen zu verdichten. Doch die Selbstauskunft der Maxie Wander fehlte nur scheinbar, so Christa Wolf in ihrem Vorwort: „… aber sie ist ja anwesend, und keineswegs bloß passiv, aufnehmend, vermittelnd.“ Mehr noch als Sarah Kirsch, die 1973 mit der „Pantherfrau“ erstmals in der DDR die Methode der literarischen Bearbeitung von Tonbandprotokollen angewandt hatte, bereicherte Maxie Wander die Texte um das eigene Bild, das sie sich von den Frauen gemacht hatte. Dies erhebt sie über den Verdacht des profanen Journalismus: Aus Protokollen waren literarische Porträts geworden. Einem Seismograf gleich nahm Maxie Wander die Zeichen der Zeit auf. Die in Wien geborene Ehefrau des jüdischen Schriftstellers Fred Wander besaß die Gabe, einem ihr bis dahin fremden Menschen in größter Aufgeschlossenheit gegenüberzutreten.
Eigene Erfahrungen werden es ihr erleichtert haben, sich in die Krisen anderer hineinzuversetzen. Hatte sie doch bei einem Unfall ihre zehnjährige Tochter verloren; noch während der Arbeit an dem Buch war sie unheilbar an Krebs erkrankt, dem sie 44-jährig im November 1977 erlag. In „Guten Morgen, du Schöne“ sagt Ruth: „Ich möchte jemanden haben, zu dem ich beten kann: Lieber Ichweißnichtwas, lass mich noch ein wenig glücklich sein. Ich zahle dir jeden Preis.“ So ist jedes Kapitel auch ein Zwiegespräch der Autorin mit sich selbst. Da redet Rosi von einer Fernsehsendung, in der es um angeblich typisch weibliche Eigenschaften ging, Passivität, Narzissmus, Gehorsam, um dann trocken anzumerken: „Ich bin also ein Mann, dem nur das Stückchen Schwanz fehlt.“ An anderer Stelle polemisiert Rosi gegen „gewisse Frauenrechtlerinnen, die wie die Wilden schießen, weil man es ihnen erlaubt hat, die über ihre Männer schimpfen, weil sie ihnen den Abwasch nicht abnehmen oder die Scheißwindeln von den Kindern.“
Dass Maxie Wander ein ebenso undogmatisches wie hedonistisches Verständnis von der Emanzipation der Frau hatte, macht ihr Buch heute so wichtig. Jede der Frauen spricht zuerst für sich, verteidigt ihr Recht auf Individualität – in einer Deutlichkeit, die für DDR-Verhältnisse neu und so gut wie einmalig war. So erzählt die 23-jährige Barbara von ihrem Nachbarn, der aus dem Strafvollzug entlassen worden war: Manchmal sei der junge Mann zu ihr gekommen, weil er gemerkt habe, „ich bin auch allein“. Barbara, von Beruf Grafikerin, gab ihm Stift und Papier: „Hat vorher nie gezeichnet, fand das blöd und hat auf einmal Gefängnisfenster gezeichnet, richtig mit Perspektive und so.“ Eines Nachts stand er vor ihrer Tür und fragte, ob er bei ihr schlafen dürfe, sich einfach neben ihr Bett legen. „Ich war so blöd, ich hab nein gesagt. Und da hat er den Gashahn aufgedreht, in derselben Nacht. Wollte nicht mehr allein sein.“ So manche Leser werden sich im Jahr 1 nach Biermann staunend die Augen gerieben haben, als Barbara erzählte, ihr Nachbar habe in seinen Bildern wohl nicht nur die Gefängnisfenster gemeint, „für ihn war alles ein Gefängnis, sein ganzes Leben, aus dem er nicht herausgekommen ist. Ich hätte sehen müssen, was er da zeichnet.“
Der enorme Erfolg von „Guten Morgen, du Schöne“ lässt sich nur mit einem außerliterarischem Interesse erklären: mit der Funktion der DDR-Literatur als Ersatzöffentlichkeit. Zwischen dem Frauenbild der Zeitschrift „Für Dich“ – die berufstätige Mutter führt den Haushalt und engagiert sich zudem gesellschaftlich – und dem tatsächlichen Alltag lagen Welten. Nicht so bei Maxi Wander; bei ihr mussten die Frauen nicht funktionieren. „Guten Morgen, du Schöne“ liest sich als eine einzige, sehr poetische Gegendarstellung – der Einklang von Literatur und Leben. Wobei die Schriftstellerin den materiellen Sorgen und Wünschen der Frauen keinerlei Gehör schenkte. Niemand muss in ihrem Buch vor einem Laden anstehen, zehn Jahre auf einen Neuwagen warten oder Handwerker bestechen. Auch die sozialistische Arbeitswelt ließ Maxie Wander nahezu außen vor – ein Grund für ihren Erfolg im Westen.
Dabei hatte etliche Jahre zuvor noch ein Martin Walser beklagt, dass die Arbeiterschaft in der Literatur vorkäme wie Gänseblümchen und Ägypter. „Arbeiter kommen in ihr vor. Mehr nicht. Hier, in diesem Buch, kommen sie zu Wort.“ Walser meinte Erika Runges „Bottroper Protokolle“, für die er 1968 das Vorwort beisteuerte. Wollte die Kommunistin Erika Runge mit ihrer Dokumentation über die Schließung einer Zeche im Ruhrgebiet eine ganze Klasse von Menschen emanzipieren, emanzipierte die Kommunistin Wander das Individuum von der Klasse. Hier, Jetzt und Ich sind die Postulate in „Guten Morgen, du Schöne“ – erschienen in einer Zeit, als noch nicht alle Utopien tot waren und man schon ein besserer Mensch war, wenn man nur die besseren Bücher gelesen hatte.
Der Zeitgeist heute ist ein anderer, und auch die Protokoll-Literatur ist eine andere: In Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ mutiert der Mensch zum animal laborum. Ihr Buch sammelt Berichte aus der Consulting-Branche, der neuen Arbeitswelt jenseits betrieblicher Mitbestimmung, Krankengeld und geregeltem Feierabend. Die „key account managerin“, der „it-supporter“ oder der „senior associate“ erscheinen als Prototypen des neuen Kapitalismus. Mit ihrer codierten Sprache, dem ständigen „workflow“, „multi tasking“ und all den „kick-off-meetings“ verraten sie ihre Sprachlosigkeit – in einer Welt, in der man ständig online ist, in der es keine Ruhe gibt und auch keine Träume. Bei Maxie Wander war das noch anders. „Was ist?“ fragt die 92-jährige Julia auf der letzten Seite. „Bist du schon müde? Dann machen wir Schluss, mein Kind.“
Der Aufsatz erschien erstmals vor zehn Jahren in der Berliner Zeitung und wurde nur in der Überschrift verändert.