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Blog

 

Von Philipp Stadelmaier

«Sometimes movies don’t really represent a concrete reality. They are more about our existence, our memories.» Apichatpong Weerasethakul

Lange Zeit über war das Kino eine Kunst des Träumens. Ihre Meister hiessen Minnelli und Fellini, Buñuel und Ruiz, Bergman und Lynch. Diese Kunst des Träumens bestand aus dem Geträumten: aus den Défilés der Traumbilder und -figuren, aus den Emanationen und Umschriften des Unbewussten in der Sphäre des Sichtbaren. Das Kino von Apichatpong

Weerasethakul ist ein anderes: nicht das des Geträumten, sondern der Träumenden. Ein Kino des Schlafs. Hier haben sich die Traumbilder in die Tiefe des Schlafs zurückgezogen, ist das Traumgeschehen auf seine äusserste Rinde reduziert: auf die Bilder von Schlafenden. Diese sehen wir, nicht aber das, was sie träumen. Das Kino ist hier nicht mehr die Bühne der

Träume – sondern ihr Grab.

Cemetery of Splendour ist ein solches Grab der Träume. Und dieses ist zunächst ein Grab von Königen, jahrtausendealt und tief verborgen unter der Erde auf dem Gebiet einer alten Schule im Norden Thailands. Soldaten waren hier angerückt, um Leitungen unter der Erde zu verlegen. Nun liegen sie, befallen von einer geheimnisvollen Krankheit, die sie tief schlafen lässt, im alten Klassenzimmer. Ab und an wachen sie auf, um bald darauf wieder das Bewusstsein zu verlieren. Jen, die den Angehörigen der Soldaten Krimskrams verkauft, beginnt, einen der Soldaten zu pflegen, und erfährt von zwei Göttinnen, an deren Schrein sie gebetet hat, den Grund für das Leiden: Die Könige, die hier begraben liegen, rauben den Soldaten ihre Energie, um sie für ihre Kriege zu benutzen, die sie bis heute fortführen: «Sie schlagen sich auch jetzt noch, in diesem Moment.» Die Soldaten träumen, aber wir sehen ihre Träume nie, weil sie im Grab der Könige verschwinden – geträumt wird immer anderswo.

Die Schlafenden halten im Traum aber Kontakt zu dieser örtlichen und zeitlichen Ferne der einstigen Könige, ihrer Kriege, Paläste und Friedhöfe. Und eine Frau mit medialen Fähigkeiten hält wiederum Kontakt zu den Schlafenden, deren Erlebnisse sie den anderen

berichtet, ohne dass sie dem Zuschauer je erscheinen würden. Im zweiten Teil des Films übernimmt sie dann den Geist des Soldaten, um Jen in einem Wäldchen hinter der Schule durch die unsichtbaren Ruinen des alten Palastes zu führen. Da man den Traum und das

Ferne nie sieht, rückt das Ferne ins Nahe, entsteht also ein Kontinuum aus Nahem und Fernem, Anwesendem und Abwesendem, Lebenden und Geistern, Gegenwart und Vergangenheit, Menschen und Göttern, Körper und Geist.

Wie in Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010), wo ein Sterbender in Kontakt mit den Geistern seines Lebens und seiner brutalen Vergangenheit beim Militär trat, ist dieses Kontinuum vor allem eines der Macht zwischen den Königen von einst und dem Militär, das heute in Thailand herrscht. Auch ist es jenes einer Gemeinschaft, die von dieser Macht gezeichnet ist, denn Weerasethakuls Figuren sind immer Leidende: Jen hat ein geschwollenes Bein, ein anderer hat Würmer, die Soldaten die Schlafkrankheit. Der Schlaf erscheint als die einzige Freiheit in einem Land, wo das Militär alles kontrolliert, während das Medium und die Verbindung des Entfernten dieser Macht eine neue, subkutane Gemeinschaft entgegenstellt. Die Leitungen, die unter der Erde des Krankenhauses verlegt werden, sind ebenso ein Geheimprojekt des Militärs wie neue Möglichkeiten der Kommunikation. Am Ende sagen sich Jen und der Soldat, sie hätten gegenseitig ihre Träume gesehen.

Nun bleibt aber die Macht ebenso wie der «Widerstand» gegen sie ohne Bild, sind sie doch selbst nur anderswo geträumte, bilderlose Träume. Die Kommunikationskabel bleiben unsichtbar; man sieht von Anfang bis Ende nur einen Bagger beim Umgraben der Erde. Was die Menschen untereinander verbindet, ist ebenso verborgen wie das Vorhaben des Militärs.

Dieses ist «so geheim, dass es vor aller Augen statthat», wie es am Ende heisst. Der Bagger schaufelt nur weiter an diesem Grab für die Träume, in das hinein diese entfliehen und verschwinden. Das Traumbild, das stets weit entfernt ist, erscheint auch nicht durch Montage zweier weit voneinander entfernter Bilder, wie bei Jean-Luc Godard. Es entsteht einzig und allein aus Entspannung. So scheint der Film wie auf einer Bilderrolle aufgezeichnet, die alles zusammenhält und sich gleichsam entrollt, entspannt, so wie der Film in zwei Teile (oder gar Filme) zerfällt: Wie in Tropical Malady oder Uncle Boonmee folgt einer Konzentration auf

Innenräume ein Ausflug ins Draussen. Nach den Szenen im Krankenhaus führt das Medium Jen durch den unsichtbaren Palast im Wald hinter der Schule. «Siehst du? Roter Marmor», sagt sie ihr, während die Kamera mürbes Laub auf dem Waldboden zeigt. Das Traumbild entsteht allein im Erschlaffen der Gegenwart, so wie das Laub in seinem Mürbsein schlaff wird und aufhört, nur Bild von diesem Laub zu sein. Und allein diese Entspannung beinhaltet die Politik, aus der heraus oder zu der hin der Film aufwachen lässt: zu einer Politik des Laubes.

Der Ort dieses «entspannten» Traumbilds ist das Kino selbst. Hierhin gehen Jen und der Soldat in der Mitte des Films, wenn dieser also in zwei Teile zerfällt – womit das Kino selbst diese «Bilderrolle» ebenso zusammenhält wie entrollt. Von einer nur zur unteren Hälfte sichtbaren Leinwand verschwinden bald die Bilder eines Trailers und machen einer weissen Leinwand Platz. Es folgt ein Schnitt in den Schlafsaal, der von einer Phalanx von Schlaflampen in wechselndes Farblicht getaucht wird, wonach der wieder eingeschlafene Soldat aus dem Saal getragen wird und die Rolltreppen des Multiplexkinos sich mit dem Schlafsaal überlagern. Der Farbwechsel der Lampen, die surrenden Deckenventilatoren und die Rolltreppen bilden diese minimale, entspannte Bewegung, in der sich im Ruhenden das verborgene Traumgeschehen abzeichnet. Das Kino ist kein Ort der sichtbaren Traumbilder mehr – sondern ein Ort des Schlafs. Ebenso bilden die Röhrenlampen die Kehrseite eines Spektakels des Sichtbaren. Sie strahlen weniger Licht aus, als dass sie es beinhalten. Sie stülpen es auf seine nächtliche Seite um, machen das Licht zum Ding. Sie zeichnen die Träume der Schlafenden in den Raum: ihre äussere, nächtliche, schläfrige Seite.

Weerasethakuls Film erhellt damit eine Zeit, in der die Träume im Kino immer mehr zu Oberflächen und Dingen werden (wie all die Apparate, die die Bilder heute jenseits der dunklen Säle verstreuen). Zuletzt war in The Neon Demon von Nicolas Wending Refn die Schönheit «ein Ding», und in Spielbergs The BFG sind Träume umherschwirrende Farbkugeln. Weerasethakuls Kino ist in dieser Hinsicht das kostbarste. Er schickt den Zuschauer ins Kino wie in die Schule, die der Krankensaal ja früher war. Hier lernt man aber nicht das Aufwachen aus dem Traum, um die schlechten Illusionen zu überkommen, sondern hier lernt man zu schlafen, und (wie es ein Meditationslehrer hier einmal formuliert) im Schlaf zu wachen. Um den schlafenden Dingen wie im Schlaf ihr verborgenes Traumleben abzulesen. Wir müssen lernen, Filme wie im Schlaf zu sehen. Um wach zu sein, wenn mürbes Laub von rosa Marmor träumt.

 

Der Text erschien zuerst im Filmbulletin, Ausgabe 5,  am 16. Juli 2016.