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Blog

Von Markus Liske

Es ist ein altes Paradox: Menschen lieben Friedhöfe und unternehmen dennoch größte Anstrengungen, um nicht so bald auf einem zu liegen. Die eigene Sterblichkeit wird gemeinhin als beängstigend, das Sterben der Anderen dagegen auf sonderbare Art als beruhigend empfunden. Sicher, den Pariser Père Lachaise mit den Gräbern von Marcel Proust und Jim Morrisson besucht man eher aus touristischem Interesse, ebenso wie den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, wo Tucholsky, Brecht und Eisler liegen. Aber was bringt die Leute dazu, über den Friedhof Britz II zu spazieren oder den Wiesbadener Südfriedhof? Ist es die außergewöhnliche Zutraulichkeit der Vögel und Eichhörnchen, die sehr genau zu wissen scheinen, dass ihnen hier von Menschenhand keine Gefahr droht? Oder ist es die spezifische Stille? Ersteres erscheint mir plausibel, letzteres eher nicht.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Frau und ich einmal über den St.-Nikolai-Friedhof im Prenzlauer Berg wandelten und vor dem rührend schlichten Grab eines „Willi Weihnacht“ von Meisen überfallen wurden, die sich, in der fälschlichen Annahme wir wollten sie füttern, auf unsere zum Rauchen erhobenen Hände setzten. Das war überaus possierlich, von Stille allerdings keine Spur. Denn wie überall im Prenzlauer Berg, wurde auch hier massiv gebaut. Rund um den Friedhof entstanden die üblichen für die meisten Berliner unerschwinglichen Eigentumswohnungen, mal als Vergewaltigung gründerzeitlicher Altbauten, mal als Neubau in jenem allgegenwärtigen aber bisher namenlosen Stil, den ich an dieser Stelle Kulissendeppizismus taufen möchte. Und so, wie die zuziehenden neureichen Kleinfamilien, deren Fenster zur Straße weisen, zuverlässig alles wegklagen, was den Bezirk einst prägte, also Kneipen, Clubs und Spätshops, so wurde den Bewohnern der hinteren Wohnungen hier schon bald der tägliche Blick aufs Gräberfeld unangenehm. Nachdem die neuen Hausgemeinschaften also mithilfe ihrer Anwälte die vormals belebte Straße in ein Art Friedhof verwandelt hatten, begannen sie damit, auch den tatsächlichen Friedhof in „eine Art Friedhof“ zu verwandeln.

Heute sind weite Teile des Areals ein sogenannter „Leisepark“. Zwar durften ein paar besonders malerisch überwucherte Grabsteine stehenbleiben, aber ein Friedhof ist es nun nicht mehr. Und auch die Meisen und Eichhörnchen gehen lieber wieder auf Abstand, wurde doch ein Teil des Geländes zu einem Spielplatz für die verzogenen Blagen der Zuzügler gemacht. Um diesen Park also tatsächlich als „leise“ empfinden zu können, muss man wohl schon selber Kinder haben, will sagen: jener für Eltern typischen auditiven Störung unterliegen, die das Kreischen Minderjähriger zuverlässig ausblendet und dafür das Geräusch von aneinanderstoßenden Biergläsern unerträglich macht.

Nun könnte man sagen: Besser so als anders. Schließlich plant der Senat bereits, ganze Siedlungen auf Friedhöfen zu errichten, um so dem innerstädtischen Wohnungsmangel entgegen zu wirken. Der Dorotheenstädtische Friedhof wird davon natürlich nicht betroffen sein, ebenso wenig wie Kriegsgräber oder solche, die schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Aber dort, wo ausschließlich die im Laufe der letzten siebzig Jahre an Krebs oder Infarkt verschiedenen Ernst und Erna Kalmutzke verbuddelt wurden, wird es mit der Ruhe der Toten bald vorbei sein, und das ist nicht nur in Berlin so. Zwar gibt es nicht überall Wohnungsnot unter den Lebenden, unter den Toten aber schon. Es ist dies vor allem ein mathematisches Problem: Hätte jeder Mensch auf Erden ein Anrecht auf die Unantastbarkeit seines Grabes, wäre unser Planet schon bald ein einziger Friedhof. Deshalb werden Gräber nur für begrenzte Zeit vermietet. In der Regel zahlen das die Kinder, bestenfalls noch die Enkel. Danach ist Schluss, und eine neue Leiche darf einziehen. Die ursprüngliche Idee also, mittels Grabstein ewiglich an den Verstorbenen zu erinnern, ist längst perdu.

Kein Wunder, dass sich heute 75 Prozent der Menschen für eine Feuerbestattung entscheiden und viele von ihnen nicht mal mehr ein Urnengrab wollen, sondern ihre Asche irgendwo verstreuen lassen. Man könnte das vernünftig nennen, aber einen Haken hat die Sache doch: Wenn von den bereits vorhandenen Gräbern nur die bleiben, denen aufgrund von Alter des Steins, Prominenz des Insassen oder Tod infolge von Krieg und Vernichtungen eine erhöhte Pietät zuerkannt wird, dann wird die Welt in der wir heute leben eines Tages völlig verschwunden sein.

Aus ästhetischer Perspektive mag das als geringer Verlust erscheinen. Wer würde sie schon vermissen, all die von miserablen Bildhauern lustlos hingehackten Engelsfiguren aus Marmorimitat? Aber der Historiker in mir stört sich dennoch an dieser doppelten Vergänglichkeit. „Sollen ruhig alle Billy-Wegwerfregale in der Recyclingtonne landen!“, ruft dieser ewige Grantler. „Sollen die kulissendeppizistischen Eigenheimsurrogate schnellstmöglich Weltraumbahnhöfen weichen und alle Smarts und Twingos zu Bierbüchsen werden! Aber ist es wirklich in unserem Sinne, wenn die Kinder der Zukunft denken, der Tod sei etwas, was 1945 abgeschafft wurde?!“

Andererseits: Wahrscheinlich denken sie das ohnehin schon, wenn sie sich beim Rumtollen auf dem „Leisepark“ ihre Milchzähne an Grabsteinen des 19. Jahrhunderts ausschlagen. Wie sollte es auch anders sein, wo doch schon ihre Eltern das Sterben der Anderen nur noch als Belästigung empfinden?

Insofern muss ich mich wohl korrigieren: Nicht alle Menschen lieben Friedhöfe. Ja, es werden immer weniger. So, wie man heute glaubt, die Armut abzuschaffen, wenn man die Armen aus der Stadt drängt, so versucht man den Tod zu besiegen, indem man Friedhöfe planiert. Der Historiker in mir kann da schimpfen, wie er will. Ändern kann er nichts und muss sich mit dem Gedanken trösten, dass dem finalen Nichtgewesensein dieser geschichtsverachtenden Generation neureicher iPhone-Techno-Ökos eine höhere Gerechtigkeit innewohnt. Schade nur um Ernst und Erna Kalmutzke. Und um Willi Weihnacht natürlich.

 

„Das Sterben der Anderen“ erschien im Oktober 2014 als „Liskes Kolumne“ im Magazin Leben & Tod