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(c)nanediehl_bettina-wilpert_klein

Von Bettina Wilpert

 

 

Wie jeden Tag im Lockdown saß ich auf der Couch und wartete, dass M. von der Arbeit nach Hause kam. Wieder hatte ich den ganzen Tag mit niemandem gesprochen, M. arbeitete auf der Corona-Station. Während es so aussah, als tat ich nichts, arbeitete mein Körper daran, einen neuen Menschen zu produzieren. Anfang Januar 2021, sechs Wochen vor dem Geburtstermin, wurde M. als einer der ersten 10.000 in Sachsen geimpft und ich war froh, dass wenigstens einer von uns als systemrelevant galt. Neben dem Baby produzierte ich auch einen neuen Roman, den die Leute in Lockdown X lesen können würden.

In einem Erziehungsratgeber lese ich, man soll einmal versuchen, die Sicht des Babys einzunehmen und sich auf den Rücken auf den Boden legen. Also tue ich das und schau die Welt von unten an. Weder Schriftstellerin noch Mutter sein gilt in diesem System als relevant. Doch die Frage muss nicht lauten, wie systemrelevant ist Literatur, sondern: Welches System? Für das Rentensystem produzierte ich einen neuen Körper und ich tat, was der Staat von mir wollte: Ich als weiße gebildete Akademikerin sollte Babys produzieren. Der Staat nennt das Demographiepolitik und meint Bevölkerungskontrolle, in der die einen Kinder bekommen sollen und die anderen bloß nicht. Das System Kapitalismus braucht diese zukünftige Arbeitskraft, die ich ihm gab.

Das System Mensch braucht, wenn es die Welt erblickt, das Stillen der Grundbedürfnisse: Nahrung, Schlaf, Wärme, Pflege, Nähe und Anregung. Nähe und Anregung fehlen uns in der Pandemie, wenn wir Glück haben, haben wir wenigstens eine Person, mit der wir unter der Decke eine Serie schauen oder uns gegenseitig ein Buch vorlesen. Ein anderes Wort für Nähe und Anregung ist Kultur. Der Kapitalismus denkt, ohne sie könne er gut funktionieren, und das kann er auch eine gewisse Zeit lang, nur wir können es nicht.

 

 

Zuerst erschienen in der taz vom 18. 11. 2021 anlässlich von Bettina Wilperts Auftritt bei „Richtige Literatur im Falschen – Wie „systemrelevant“ ist Literatur? Zum Diskurs um Literatur und Pandemie“ mit Christoph Jürgensen, Peggy Mädler, Alexandra Manske und Enno Stahl im Literaturforum im Brecht-Haus.