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Blog

Von Frédéric Valin

K. hat Schwierigkeiten mit Menschen. Er erkennt ihre Grenzen nicht. Er versteht nicht, dass nicht jeder, wenn er vor ihm steht, das gleiche Bedürfnis hat wie er, die gleichen Wünsche, das gleiche Weltempfinden. Es ist schwierig für ihn, zu verstehen, dass er, fast zwei Meter groß, A., die ihm kaum bis zum Bauchnabel reicht und ein Drittel von ihm wiegt, Angst macht, wenn er wie ein wilder Schwan, mit weit ausgebreiteten Armen, auf sie zustürmt, um sie zu umarmen. Er freut sich doch, warum sie nicht?

Es gibt die Tendenz, Menschen, die in Heimen wohnen, durchzudiagnostizieren. Die medizinische Abdeckung ist hier sehr gut, es kommen regelmäßig Spezialisten ins Haus. Das führt dazu, dass alles ein Symptom sein kann. Jemand steht spät auf? Vielleicht eine Depression. Jemand spricht mit sich selbst? Vielleicht psychotisches Erleben.

Man kann K.s Geschichte als medizinischen Fall behandeln. Ich sehe darin aber keinen Erkenntnisgewinn. Die Brüche, die seine Geschichte bestimmen, scheinen mir interessanter. K. wuchs, bis er elf Jahre alt war, relativ stabil auf, dann wurde er aus seinem sozialen Umfeld gerissen; durch längere Krankenhausaufenthalte, seine Eltern trennten sich und sein Vater zog aus, er zog mit seiner Mutter für eine Weile aufs Land, wo er kaum Anschluss fand. Es folgten zwei weitere Umzüge, er verpasste ganze Schuljahre, irgendwann zogen Mutter und Sohn wieder zurück, mit Anfang zwanzig kam er zu uns, in eine begleitete Wohngruppe.

Ich habe ihn einmal gefragt, ob er eigentlich Schulfreunde habe, mit wem er so gespielt habe in seiner Kindheit. Er erinnerte sich an einen Jungen aus der Nachbarschaft, mit dem habe er Tischtennis gespielt und im Sandkasten gebuddelt. Warum er mit diesem Jungen keinen Kontakt mehr habe, fragte ich, da sagte K.: Der hieß so komisch.

K.s Vater ist Rassist. War Rassist, muss es heißen, er ist inzwischen verstorben. Ich habe ihn häufiger erlebt, wie er abfällige Bemerkungen machte über Menschen „mit komischen Namen“, über die Ausländer, über die ganzen Illegalen, die den Sozialstaat usw. Auch in K.s Wortschatz finden sich rassistische Bezeichnungen, und es ist sehr schwer, ihm immer wieder zu erklären, warum man dieses und jenes Wort nicht benutzt. Ich nehme an, er hat diese Bezeichnungen von seinem Vater übernommen.

Jedenfalls erklärte K. mir kürzlich erst – ohne dass ich danach gefragt hätte – dass er diesen Jungen mit dem komischen Namen deswegen irgendwann nicht mehr getroffen habe, weil sein Vater das nicht gut gefunden hätte; mit solchen Leute gäbe man sich eben nicht ab. Die einzige potentielle Freundschaft, die K. hätte haben können, ist zerstört worden durch den Rassismus seines Vaters. Hin und wieder erzählt K. inzwischen von diesem Jungen, er ist das einzige Nicht-Familienmitglied, das K. aus seiner Kindheit erwähnt. Den Namen hat er mir aber bis heute nicht gesagt.

 

Der Text erschien zuerst am 26. August 2018 auf dem Facebook-Profil von Valin,  facebook.com/freval