Der Junge saß meist allein. Für sich. Am Tresen, wo die Einheimischen hockten. Bier trinkende Bauern, die neugierig das Treiben auf der Tanzfläche bestaunten. Er saß nicht unter ihnen. Eher dabei. Auf Abstand. Armlänge. Es war eine wilde Zeit. Nicht annähernd so wild, wie wir fühlten. Oder?
Treffpunkt Bushaltestelle. Vorn, am Ortseingang. Mopedgeknatter und Küsse. Oder wenigstens die Sehnsucht danach. Nach einer Hand. Einem Blick. Er war ich. War einer von uns. Einer von den Scheuen, mag sein. Aber was zählt das Draufgängertum der einen ohne die Schüchternheit der anderen? Wir waren gern dort, wo alle so sein durften, wie sie wollten. Fast.
Im Laufe der Jahre ist mir sein Gesicht abhanden gekommen. Nur schemenhaft taucht es manchmal noch auf. Immer seltener. Auf dem Heimweg, beim Überqueren der regennassen Straße im Dämmerlicht. Im Zugfenster, wenn draußen vertraute Landschaft vorüberzieht. Zwischen den vielen, die warten. Dabei vergesse ich doch keine Gesichter. Was ist Wahrheit?
Ein ausgeblichenes T-Shirt. Ein Gesicht, das fehlt. Eine Stimme. Ein Mensch. Wenigstens ein Name.
Keiner erinnert sich. Keine. Nicht an diese Nacht. Nicht an ihn. Als wären wir gar nicht dort gewesen.
Sie schauen mich an, als sei ich verrückt.
Aber wenn ich es nicht bin, verrückt, dann sind es alle anderen. Oder?
Menschenscheu. Bummelletze. Bis zum Scheitel im Gestern. Sitzen geblieben. Dort. Bei dem Toten.
In meinen Träumen sehe ich den Jungen an einen Kachelofen gelehnt. Mitten im Saal. Wölkchen vorm Mund. Ich sitze an einem der Tische, die aufgereiht an der Fensterfront stehen. Am letzten, dem vor der Bühne. Er sieht mich nicht. Er hat keine Augen. Ich schreie und wache auf.
Der Beschluss, in das Archiv zu fahren. Polizeiberichte. In großen, unhandlichen Ordnern sind die Ausgaben der Tageszeitung abgeheftet. Jahrgangsweise. Ich muss nicht lange suchen. 1992. Trotzdem sitze ich viele Stunden da. Blättere. Erkenne den Großen, den mit dem kalten Lachen. Auf dem Foto der Fußballmannschaft. Erkenne die Kicker. Davor. Danach. Die, die immer weiter treten. Ich springe. 95. 91. 98. Die Furcht, dass es stimmt. Die Furcht, dass es nicht stimmt.
Es stimmt.
„Am vergangenen Sonntag kam es in Klein-Mutz in der Gaststätte ‚Wolfshöhle‘ zu einer Auseinandersetzung, die tödlich endete. Der 18-jährige Ingo L. aus Grüneberg trug Verletzungen im Gesicht, am Hals und am Körper davon. Der zu Hilfe gerufene Arzt stellte gegen 1.20 Uhr den Tod fest. Als Ingo L. am Boden lag, versetzte Oliver Z. ihm mehrere Fußtritte. Er trug sogenannte ‚Doggs‘, Schuhe mit Eisenspitzen.“
Der Text entstand für den Bildband „Die Angehörigen“ von Jasper Kettner & Ibrahim Arslan (136 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, 37 Abbildungen.)