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Meine Damen und Herren, lieber Milo,

Es ist vermutlich das Kaugummikauen, das mich so enerviert. Da steht die Schauspielerin Kaugummi kauend vor ihrem Rednerpult und hält die Rede von Breivik angeblich nochmal. Hat Breivik Kaugummi gekaut, frage ich mich spontan, oder ist das eher eine Schauspielerübung frei nach Demosthenes? Was bedeutet dieses öffentliche Kaugummikauen heute? Machen wir das überhaupt noch, oder ist es eher ein Kaugummikauen im übertragenen Sinn? Wo liegt sie, die Missachtung des Gerichts, die Verkennung der Situation, der Schlag ins Gesicht der Opfer, Ausdruck der völligen Zerfahrenheit der Lage?, frage ich mich, während die Schauspielerin Sascha Soydann weiterspricht. Über die Demokratie, die man in Europa nicht wirklich antreffen kann, über die in Wirklichkeit herrschende marxistische Diktatur. Es fällt mir sehr schwer, ihr zuzuhören, sie irritiert mich mit ihren Blicken ins Publikum. Sie macht Pausen. Schrecklich viele Pausen, die mein Wissen nur vergrößern, dass diese Rede ursprünglich in einem Gerichtssaal gehalten wurde – als Folge eines der schrecklichsten Massaker, die ein Einzelner in Europa verübt hatte. Aus der Mitte unserer Gesellschaft, wie es so schön heißt. Sie sieht dabei nicht aus wie Breivik, ganz und gar nicht, sie ist aber genauso Breivik, wie ich Breivik sein könnte oder vielmehr nicht sein könnte, sie bezeichnet eine Grenze. Eine Grenze dessen, was ich zu verstehen in der Lage bin. Ich frage mich, ob die Rede Breiviks etwa nur abstrusen Mustern folgt oder ob es noch Anschlussstellen gibt. Anschlussstellen oder Ausschlussstellen? Ich stecke jedenfalls fest in diesem Kommunikationsvorgang, der notwendigerweise im juristischen Prozedere verankert ist, mühsam erkämpft, der Blutrache einer Orestie einst abgerungen.

Über das Theater von Milo Rau wird schnell behauptet, es werde etwas in ihm wiederholt, was vorher schon stattgefunden hat. Aber was hat schon jemals stattgefunden? Und kann etwas überhaupt zweimal stattfinden, schon gar historische Ereignisse, wie es heißt? Nein. „Re-Enactment“ wird dann schnell gesagt, und vor allem über diese Inszenierung der Breivikrede heißt es, sie sei re-inszeniert worden. Milo Rau hingegen äußerte, er habe Breivik nicht inszeniert, er habe höchstens versucht, Breivik weg-zu-inszenieren. Bei den anderen Prozesse, die von Milo Rau re-enacted worden sein sollen, bei dem kurzen Prozess, den man den Ceauşescus gemacht hat, aber vor allem den „Moskauer Prozessen“, den „Zürcher Prozessen“, fällt es schon schwerer, diese Vermutung anzustellen, und bei dem „Kongo Tribunal“ wird es offensichtlich, dass es schon mal gar nicht re-enacted sein kann, weil es das Originaltribunal zum Kongo Tribunal ja gar nicht gegeben hat. Und doch: Natürlich wird im Theater Milo Raus auch etwas re-inszeniert, an anderem Ort und anderer Stelle, nicht dort, wo es hingehört, in den realen Gerichtssälen, in den realen Military Compounds, den realen Radiostationen. Es sind dabei auch durchaus naturalistische Formen, die angewandt werden. Der Schauspieler, der Ceauşescu darstellt, wiederholt dessen vogelhaften Kopfbewegungen, seine Kollegin wird die Versteinerungen der Diktatorengattin nachvollziehen. Ein Exerzitium für die Beteiligten, die alle in die Geschehnisse von 1989 verwickelt waren. Wir sehen das gespannte, ja, nervöse Gesicht von Jekaterina Samuzewitsch, der dritten Aktionskünstlerin von Pussy Riot, wie sie die ersten beiden „Moskauer Prozesse“ verfolgt, bei denen endlich auch einmal die Seite der in Russland Angeklagten zu Wort kommt – dies ist schon eine andere Form der Wiederholung. Und dann sehen wir den Auftritt des ehemaligen belgischen Minenbetreibers aus dem Ostkongo, der von jeglicher Wiederholung verlassen ist und nur immer wieder sagen kann, dass er bisher nicht gehört wurde, dass es niemanden interessiert hatte, was dort mit dem Unternehmen oder gar mit dessen Arbeitern und Arbeiterinnen geschah.

Seit Milo Rau existieren sie also, die Originalgerichtsprozesse und die kopierten, nein, Zweitprozesse – Sie sehen schon, ich stocke. Nicht nur, weil das Verhältnis von Original und Kopie hier infrage steht, sondern auch, weil etwas unserem landläufigen Verständnis von Re-Inszenierung zuwiderläuft. Die Vorlage, darauf können wir uns einigen, enttäuscht uns jedenfalls, manchmal ist sie derart fehlerhaft, dass man sagen könnte, sie sei eigentlich überhaupt nicht vorhanden. Prozesse voller Lücken, voller gefakter Stellen, falscher Momente. Das könnte uns kaltlassen, wären wir nicht im Gegensatz zu Breivik überzeugt, in Demokratien zu leben, die ein gewisses Vorgehen verlangen, gewisse Institutionen benötigen, ein gewisse Vorstellung von Gerechtigkeit in Gerichtsbarkeit umsetzen. Die demokratische Behauptung ist ja überhaupt der letzte Legitimationsrahmen unseres schönen Abendlandes, unsere einzig übrig gebliebene Abgrenzung von der absoluten Barbarei eines rasenden Finanzkapitalismus. Nicht mehr sind es die soziale Gerechtigkeit, die Verteilungsfragen, eine Kritik der politischen Ökonomie, diesbezüglich sind wir – wer wir? – auf religiöse Art radikal einsilbig geworden. Demokratie ist die symbolische Münze, die wir – wer wir? – benutzen, um einzuzahlen auf das Konto unserer Herrschaftsbewegungen. Und wir – wer wir? – tun das, während wir jede Menge von Humanismus, Menschenrechten, Menschenwürde sprechen. Argumentiert wird einzig in moralischen Kategorien – und Moral ist leider das Gegenteil von Erfahrung, von genauer Beschreibung, sie lebt von ihren blinden Momenten. Kein Wunder, dass es zu dem allseits beschworenen Einbruch des Realen kommen musste, dem angeblich alle gleichermaßen unterliegen. Ja, auch wir – hier! Die Agora-Bewohner dieses Theaters, die kulturbeflissenen Humanisten, die wir uns zwischendurch durchaus mal gerne an die Anfänge des europäischen Theaters erinnern. Verbinden die sich nicht durch die Orestie mit der Entstehung des antiken Rechtssystems in Griechenland? Hängt nicht dem Theater eine gewisse Gerichtsbarkeitskonvention an und dem Gericht nicht eine gewisse Theatralik?

Um Milo Raus Arbeit zu begegnen, müssen wir uns allerdings nicht dessen gewahr werden, es genügt, sich vielmehr einen Augenblick an die Gegenwart zu erinnern, und zwar nicht als längst vereinbarte, längst geschehene, wie es heute üblich geworden ist, sondern als unentschiedene, aus der Zukunft kommende, noch nicht aufgebrauchte, noch nicht konsumierte. „Die Zukunft findet jeden Tag statt“, ist ein typischer Satz des Schweizer Theaterregisseurs, Filmemachers und Schriftstellers – und nein, nicht, um zu einer Schweigeminute aufzurufen, wie das heute gerne geschieht bei den großen öffentlichen Trauerfällen, zur kollektiven Erinnerung an das ständige Begräbnis jeglicher verfügbarer Zukunft unserer von Actuality getriebenen und Just-in-time-betriebenen Gegenwart, sondern zu einer Streitminute, einer Streitpraxis, einem Konfrontationsgeschehen als Übung des Wiedererlebens der noch nicht stattgefundenen Szene.

Gegen-wart, so habe ich kürzlich von der Literaturwissenschaftlerin Karin Krauthausen erfahren, dieses Wort leite sich etymologisch laut dem Grimmschen Wörterbuch nicht unbedingt von einer zeitliche Präsenzform ab, sondern bezeichnete einst alleine einen krisenhaften Moment, eine Dringlichkeit der Wirklichkeitserfahrung: auf dem Schlachtfeld, dem Duellplatz, in der Gerichtsszene. Gegenwartstheater ist, so verstanden, ein Theater der Antagonismen, der Gegensätze, der Krise und der Spannung. So ein Verständnis trägt jede Menge Pathos in sich, dem man in Milo Raus Arbeit durchaus begegnen kann. Pathos vertrage sich aber nicht mit politischer Analyse, werden Sie jetzt sagen – doch, wenn es mit einem Plural einhergeht, mit der Praxis konkreter Beobachtung, mit dem Focus auf Handlungs- und Entscheidungsverläufen.

Insofern verstehe ich seine Aussage gegenüber dem Schweizer Fernsehen, er sei bei den „Zürcher Prozessen“ gar nicht so sehr am Ausgang der Prozesse gegen die Weltwoche wegen rassistischer Volksverhetzung interessiert. Es ist eben nicht der eine Prozess, das eine Urteil, dem seine Untersuchung gilt, es ist eine Folge von gerichtlichen Vorgängen, eine rechtliche Praxis, eine Verstrickung der Prozeduren, die mit ineinander verkeilten und verkanteten Fragen stattfinden und seine Arbeit viel weiter ausgreifen lassen, als es ein einfacher Politaktivismus tun würde, der weiß, wohin es gehen muss, und sich ohnehin immer schon auf der Zielgeraden befindet. Beim „Kongo Tribunal“, das vielleicht am weitesten diesbezüglich ging, hielt einen erst einmal schon die unübersichtliche Anklagesituation in Atem. Ist es die UNO, die EU, sind es die multinationalen Konzerne, die Milizen im Ostkongo? An welchem Ort stelle ich welche Frage – in Berlin oder in Bukavu? Welche Arten von Aussagen finden sich da – theoretische, konkrete, Narrationen des Gewesenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen? Ja, es kam durch den Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck sogar zu einer Selbstkritik des Verfahrens.

Es war das vielleicht tollkühnste Projekt Milo Raus, weil sich hier die Ambivalenz und Gespanntheit des politischen und künstlerischen Feldes am stärksten zeigte, eine merkwürdige Interferenz, die ich bis heute noch nicht ganz verstehe, wo ich doch quasi vor Ort war, mit dabei. Wo bin ich da gewesen, als ich als Gerichtsschreiberin tätig war? Wirklich in den Sophiensälen, in einer Theateraufführung? In einem Gerichtssaal oder im Internationalen Institut für politischen Mord? Und wann war ich dort? Heute oder morgen? Was ist das für eine künstlerische Selbstermächtigung, und welche politische Zweideutigkeit wohnt ihr inne? Ich muss sagen, das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Es handelt sich jedenfalls nicht um ein eindimensionales Schillern zwischen den beiden Feldern Kunst und Politik, es ist vielschichtiger, raumgreifender. Das hat nicht nur mit Raus konsequentem Internationalismus zu tun, sondern auch mit jeder Menge Fiktionalisierungsenergie. Denn es wird mir beim Nachdenken über seine Arbeit mehr und mehr deutlich, wie viel Fiktion es bedarf, um die Möglichkeit so eines Tribunals zu denken. Ja, vielleicht brauchen wir heute überhaupt immer mehr Fantasie und müssen fiktive Umwege nehmen, um das Naheliegende zu machen? Diesbezüglich versteht Milo Rau Kunst, in strenger Nachfolge nicht nur linker, sondern auch ganz klassisch aufklärerischer Positionen, als politischen Möglichkeitsraum, als Kartografie des Veränderbaren, und als Verdichtung der Narrationen gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Negation gleichermaßen, und dafür braucht es einen vielschichtigen Theorierahmen, eine facettenreiche Übung in politischer Einbildungskraft, wie uns das Alexander Kluge immer wieder klar gemacht hat. Um diese Vorstellungskraft zu entfalten, entwickelt Milo Rau sie gedanklich von den Rändern seiner theoretischen Erfassung her, er verwendet Radikalismen als Brennglas für die Zur-Kenntlichkeit-Entstellung einer scheinbar befriedeten Konsensherrschaft. Eine aufklärerische Linke sei stets hart an der Grenze zum Linksfaschismus gewesen, diese Aussage Raus lese ich in dem Buch „Die Enthüllung des Realen“ über seine Arbeit, und doch, so muss ich hinzufügen, findet sich im „Nachmittag eines Linksfaschisten“ notwendigerweise auch immer wieder die Beschäftigung mit dem Rechtsradikalismus oder mit als rechtsradikal zugewiesenen Positionen. Seine Gesprächspartner reichen von Jean Ziegler über Saskia Sassen, Andreas Fanizadeh über Michel Friedman und Dyab Abou Jahjah, dem Gründer der europäisch-arabischen Liga, bis hin zu dem rechten Intellektuellen Richard Millet, dem Breivik-Versteher, wie man heute im Zeitalter des zynischen Humanismus sagen würde.

Ich habe Milo Rau als begnadeten Kommunikator erlebt, der nicht nur die antagonistischen Positionen an einen Tisch bringt – das war vor allem bei den „Moskauer Prozessen“ offensichtlich – es gibt da bei ihm immer diese Lust am Provokativen, der apodiktischen Formulierung, am rebellischen Trotzdem. Zusammen mit seinen Rechercheuren und Mitstreiterinnen des IIPM, des International Institute of Political Murder, mit denen ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet und die hier unbedingt erwähnt werden müssen –

Da wären in der Dramaturgie Eva-Maria Bertschy, Stefan Bläske, Mirjam Knapp, Jens Dietrich – für die Bühne: Anton Lukas – für das Video: Marcel Bächtiger, Marc Stephan – für die Theorie: Rolf Bossart – für die Technische Leitung und Sounddesign: Jens Baudisch – für die Produktionsleitung: Mascha Euchner-Martinez, Eva-Karen Tittmann – für die Öffentlichkeitsarbeit: Yven Augustin und für das Grafik und Corporate Design: Nina Wolters – (ja, so sieht es aus!)

Zusammen mit ihnen erstellt Milo Rau das Netzwerk des Ästhetischen, unternimmt er diese grammatische Übung des Durchdeklinierens des Situativen, ob es sich um eine Theaterinszenierung, eine soziale Plastik, einen Film, eine Podiumsdiskussion oder Publikationen handelt. In Raus Arbeit geraten nicht nur die Felder des Politischen und des Künstlerischen in Spannung, wir befinden uns mitten in einem realistischen Suchlauf durch die Formen, Formate, Genres und Medien.

Aber ist Realismus ein Begriff, der Milo Raus Arbeit kennzeichnet? Zu viele alte Missverständnisse reproduziert er, selbst nachdem man dieses ewig postbürgerliche Verliebtsein ins Authentische hinter sich gelassen hat. Was Realismus heute noch sein kann, wie er funktioniert, wie sein Verhältnis zum Darstellerisch-Mimetischen ist, was das Fiktiv-Wahr-Reden von dem Dokumentarischen-Wahr-Reden unterscheidet, über Kunst als Magie, die befreit ist von der Lüge, die Wahrheit zu sagen, von der Vorahmung statt der Nachahmung und dem Vorbild statt dem Abbild, laufen die Zitatmaschinen aufs Neue heiß, und am Ende einigt man sich doch darauf, dass es DEN Realismus normativ nicht mehr geben kann, dafür allerdings realistische Strategien und Methoden. – Ein wenig unbefriedigend, aber ich stolpere ebenfalls nur durch diese unendliche Diskursverwerfung. Auch zu Milo Rau wurde diesbezüglich viel formuliert. – Klar ist, seine Arbeit am Realismus ist weniger die ordnende Beschreibung dessen, was passiert, weniger Orientierung, didaktische Aufklärung, nein: „Das, und nur das ist aber für mich Realismus: Ein einfacher Vorgang wird in die Realität transportiert und zur ‚Situationʻ, in der man sich plötzlich nicht mehr orientieren kann.“ So beschreibt er sein Verständnis in einem der zahlreichen Gespräche mit dem Philosophen Rolf Bossart. Die bewusst gesuchte, eben nicht genau einzukalkulierende Desorientierung wie besonders deutlich im „Kongo Tribunal“ oder in den „Moskauer Prozessen“, sie geht einher mit der Infragestellung der eigenen Position, wovon vielleicht „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ am direktesten erzählt. Dies und die permanente Nachjustierung der Realitätsrahmen, mit denen die mediale Öffentlichkeit ansonsten operiert, sind die Grundparameter von Raus realistischen Suchbewegungen. Realismus, diese ästhetische Methode im Mangelzustand, besteht in der Herstellung einer unkontrollierbaren Situation, eine Engführung, die man irgendwie zwischen Schlingensief’schem Scheitern, Beuys’scher sozialer Plastik, dem Karmarkar’schen Reenactment verorten könnte, wüsste man nicht, Milo Rau bewegt sich auf einem Terrain, das neu zu definieren ist, eines das provokative, polit-aktivistische, ästhetisch reflexive, therapeutische, ja!, situative, sinnlich konkrete Momente verbindet.

Raus Arbeit kann als Durchqueren eines Wunschzusammenhangs beschrieben werden, als eine politische Verlustanzeige, bestehend aus einem System, das von hypernaturalistischen Vorgängen, wie sie Rolf Bossart bezeichnet, über verdichtete ineinander geführte Formate, bis hin zu gefakten, nein, fiktiven, nein, geträumten Situationserfindungen reicht. Situationserfindungen, die allerdings immer schiefgehen können. Und das ist der Punkt, auf den ich im Nachdenken über Milo Raus Arbeit immer wieder komme: das Riskante! Es ist quasi der rote Faden, der sich für mich einstellt. Hier kann noch etwas schiefgehen, also wirklich schiefgehen, hier wird etwas riskiert, hier tritt nochmal, allerdings freihändig, das ganze Pathos der Tragödie auf, die ja bekanntlich immer unterwegs ist in einen möglichen Umschlag, in die Katastrophe. Freilich nicht jene Katastrophe, die wir in unserer westeuropäischen Medienwelt so lässig zu bewohnen glauben.

Man könne Europa nur von außen besichtigen bzw. verstehen, von Syrien aus, von Nordafrika aus, aus der Ukraine und aus Russland, formulierte Milo Rau vor einiger Zeit und hat in einer Art dialektischen Sprung gleich eine Innenansichtstrilogie geplant. Den ersten beiden Teilen seiner Europa-Trilogie „Civil Wars“ und „Dark Ages“, die beide hier in diesem Haus gezeigt wurden und werden, wohnt natürlich auch jenes Moment der permanenten Außenbesichtigung inne, und doch erscheinen sie einem wie eine quasi psychoanalytische Introspektion, schließlich handelt es sich von der Form her um eine Ansammlung von persönlichen Erfahrungsgeschichten an sehr genau konstruierten Motiven entlang, die etwas herleiten sollen, eine Art psychosoziales Geflecht, auf dem Europa nämlich auch aufbaut. Es handelt sich um eine Geschichte der Gewalterfahrung, die sich unterirdisch fortsetzt. Das Merkwürdige dabei ist, und das habe ich erstmal gar nicht begriffen, es sind die Schauspieler selbst, die ein Autofiktionalisierungsspiel in Gang setzen, das mit äußerst bewusster Formgebung einhergeht. Manfred Zapatka ist eben nicht der Laie, der von sich berichtet. Er formt sofort und fiktionalisiert sich, man könnte sagen, vermöglicht sich durch seinen Auftritt in „Dark Ages“, gemeinsam mit Valery Tscheplanowa, Sanja Mitrovic, Sudbin Music, und in „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“, das wir heute sehen können, tut dies Ursina Lardi und Consolate Sipérius. Und wenn sie dabei von ihrer Theaterarbeit erzählen und in diesem Theaterraum ankommen, in dem wir beinahe gegenwärtig sitzen, fühlen wir uns merkwürdig erwischt. Man könnte sagen, hier geht es vom Re-Enactment zum Re-Import. Milo Rau holt die Kriegstraumata zurück in den Raum, ein Re-Import aus einer Welt der exportierten Wirtschaftskriege. „Den Krieg zeigen, der als Frieden dargestellt wird“, würde er dazu sagen, wäre jener Milo Rau in meinem Kopf nicht gerade mit etwas völlig anderem beschäftigt.

Und bevor ich noch zitieren kann, wie das Fremdmachen des Eigensten zur primären Aufgabe geworden sei, was er ganz sicher in Karl Kraus’scher oder Elfriede Jelinek’scher Manier einmal geäußert hat, unterbricht dieser mich auch schon und sagt, er würde seine Arbeit als Theatermacher lieber als eine Geschichte von Dingen darstellen, die nicht funktioniert haben – er sei als Politaktivist erfolglos, ihm seien zahlreiche Prozesse anhängig, er habe Einreiseverbot nach Russland, politisch nichts erreicht. Er würde gerne mehr von den Dingen hören, die aus dem Ruder laufen können und müssen, nicht beliebig, sondern sorgfältig inszeniert. Was ist realer als die Kontrolle zu verlieren?, ruft er, und wie gerne würde ich ihm jetzt recht geben.

Aber ich soll mich ja auch an die Gegenwart erinnern. Und in dieser Gegenwart stehe ich heute hier vor Ihnen und soll eine Laudatio auf Milo Raus Theaterarbeit halten, hier in dieser Schaubühne, im Rahmen des ITI-Preises des Internationalen Theaterinstituts, was mich auffordert, jetzt noch viel über den Internationalismus bei Rau zu formulieren, aber ich muss zugeben, es macht mich etwas schwindlig, das heißt mehr als schwindlig. Vielleicht liegt es an der Geschwindigkeit, mit der er in den letzten Jahren politisch-moralische und theoretische Kernfragen ästhetisch zu formulieren wusste, eine Geschwindigkeit, die sich aus einer Dringlichkeit speist und die jede Menge Widersprüche mit sich bringt, die er ganz selbstbewusst und eben auch selbstwidersprüchlich aufgreift. Sein offensiv betriebener Hang zum Selbstwiderspruch hat ihn mir auch sofort sympathisch gemacht, selbst wenn er es in solchen Aussagen eher nicht auf Sympathieträgerschaft anlegt. Die eigene Widersprüchlichkeit zu untersuchen, ist bekanntermaßen ein heikles Terrain, und in diesen Tagen mehr denn je eine notwendige Übung. Als Gerichtsschreiberin beim „Kongo Tribunal“ musste ich beispielsweise qua Auftrag meine Augen und vor allem Ohren den Zeugen leihen, versuchen, eine möglichst dichte Wiedergabe zu leisten, die natürlich mit sich bringt, dass ich gar nichts mitkriegte. Das Exerzitium der Form trieb mir das Verständnis aus. Es war eine Lektion darin zu erkennen, warum man gewisse Dramen übersehen kann, eine uralte europäische Wahrnehmungsstörung, die wir gerade wieder vollzogen haben. Es mit diesen Wahrnehmungsstörungen aufzunehmen, ist Milo Raus Programm.

Insofern freut es mich ungemein, dass dieser verrückte und gleichzeitig so folgerichtig und doch widersprüchlich argumentierende, notwendige Kontroversen auslösende, engstirnige und äußert lebendige, internationale und stets vor Ort seiende, pointierte und hypernaturalistische Milo Rau den diesjährigen ITI-Preis erhält, und ich gratuliere ihm ganz herzlich dazu!

Kathrin Röggla, 2016

 

Diese Laudatio auf Milo Rau trug Kathrin Röggla am 10.4.2016 in der Schaubühne Berlin vor, der Anlass war die Verleihung des ITI-Preises 2016 an Milo Rau.

Siehe auch: kathrin-roeggla.de

Siehe ebenso: Dankesrede zum ITI-Preis von Milo Rau