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24S

Enno Stahl: Leo, auf meine Mail bekam ich zunächst eine automatische Antwort, du seist bis dann und dann „in der Wildnis/ in the wildernis“ und daher nur sporadisch zu erreichen. Mir fällt auf, dass Du jetzt immer wieder in stadtfernen Reservaten abzutauchen scheinst. Und dass Du Dich verstärkt für Nature Writing engagierst. Ist das ein Resultat unserer Tagung und der Arbeit an unserem Buch?

Leonhard F. Seidl: Es ist eher andersherum, dass meine Nature-Writing-Residenzen mich für das Genre gepackt haben und daraus ist dann mein Beitrag zu Gegenwart und Historie des Nature Writing samt Poetik entstanden. Es begann bereits 2020, als ich das „vielleicht extremste Literaturstipendium der Welt“ hatte, wie die Nürnberger Nachrichten schrieben – auf einer verlassenen Alm im Nationalpark Gesäuse, wo ich ohne Strom und Wasser, dafür in Gesellschaft von Murmeltieren und Steinadlern gelebt habe. Von dort musste ich 2,5 Stunden in die nächste Zivilisation wandern. Seitdem war ich in zahlreichen Nationalparks in Deutschland, Österreich und Tschechien Stipendiat und konnte tief in das Nature Writing eintauchen.
Was hat unsere Tagung bei dir ausgelöst, Enno, das Schreiben über Natur betreffend?

Enno Stahl: Die Tagung, und besonders der daraus entstandene Band, in dem man alle Texte noch einmal konzentriert nachlesen kann, ebenso wie die ausführlichen Diskussionen, die sich an die Referate anschlossen, haben mir das Verhältnis zwischen Literatur und Natur sehr viel bewusster gemacht. Schon die Beschäftigung mit den Texten, die ich in meinem Beitrag rezipiert habe, gab da einen ersten Impuls, der sich durch das Fürther Symposium verstärkte. Beides hängt eng miteinander zusammen, und das bedeutet in der Folge für mich, die Natur schreibend nicht einfach hinzunehmen, sondern genauer darüber nachzudenken, ihre Eigenwertigkeit zu reflektieren. Ein anderer wichtiger Aspekt war die Erkenntnis, dass Ökologie vorrangig eine Systemfrage ist. Reiche Nationen haben einen erheblich größeren ökologischen Fußabdruck als arme Länder, etwa in Afrika, und ebenso haben reiche Menschen in den Staaten des Westens eine deutlich schlechtere Umweltbilanz als die armen Leute, die hier leben. Die Kritik dieser Zustände muss also ganzheitlich sein, Ökologie und Ökonomie betreffen.
Wie denkst du, Leo, kann man eine solche politisch umfassende, nämlich kapitalismuskritische Stoßrichtung stärker in den Umweltbewegungen verankern?

Leonhard F. Seidl: Kapitalismuskritik ist bei vielen Aktivistas aus der Umweltbewegung ein Grundpfeiler ihrer Überzeugung. Gerade bei Ende Gelände tritt dies besonders deutlich zutage, die ja im letzten Jahr mit „We shut shit down“ ein Buch dazu in der Edition Nautilus veröffentlicht haben. Aus gutem Grund ist „Klimagerechtigkeit“ auch bei Fridays for future ein relevantes Thema, da sie wissen, dass es ohne globale Gerechtigkeit keine Zukunft geben kann, da alle Menschen weltweit zusammenhängen und sogar voneinander abhängig sind.
Mich interessiert mehr die Frage, wie wir als Schriftsteller:innen, diese Themen literarisch-ästhetisch angehen können. Was hast du dazu für Ideen?

Enno Stahl: Meiner Ansicht nach müssten wir den engen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und ökologischer Verantwortung in geeigneten Plots und Figuren herausarbeiten, etwa das konkrete Handeln bestimmter Personen nachzeichnen und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Man könnte zudem zeigen, wie viel stärker Personen aus sozial schwächerem Umfeld unter den Folgen des Klimawandels leiden, da sie z.B. große Hitze in engen, überhitzten Wohnungen (ohne Balkons und Gärten etc.) ertragen müssen. Ebenso könnte man aber thematisieren, dass man sich die Transformation leisten können muss: Ärmere können sich nicht einfach so eine Wärmepumpe einbauen. Hohe Energiekosten werden für sie zur Überlebensfrage. Eine andere Perspektive ökokritischer Literatur könnte sich an den globalen Unterschieden abarbeiten, sie könnte demonstrieren, was die Klimakrise für Menschen im globalen Süden bedeutet, könnte etwa erzählen, wie sich viele von ihnen deshalb auf die lebensgefährliche Flucht in den globalen Norden begeben. Man könnte ein Verantwortungsgeflecht entwerfen: Firmen aus dem Norden operieren profitgesteuert im globalen Süden, etwa in der Ausbeutung von Rohstoffen, Seltener Erden im Kongo beispielsweise, und Literatur könnte aufgreifen, welche Folgen das für die Umwelt und die Leute dort hat. Man könnte Geschichten anhand dieser Abhängigkeitsverhältnisse von Ursachen und Wirkungen erzählen.
Was, meinst Du, liefert unser Buch für Erkenntnisse oder Impulse, die für diese Fragen nutzbar gemacht werden könnten?

Leonhard F. Seidl: Es finden sich darin zahlreiche Beispiele aus der Historie und Gegenwart der Literatur im Allgemeinen und im Speziellen, sei es der Beitrag „Literatur als (kultur-)ökologische Praxis“ von Hubert Zapf oder „Will die Erde Gnade oder freies Geleit? Der schleichende Tod der Natur/lyrik“ von Julia Ingold. Michael Wildenhain dagegen hat in „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wie ich auch eine Poetik engagierter Literatur entwickelt. Wobei es in meinem Beitrag „Barfuß am Himmel schlendern – Vier Thesen zu Tradition und Gegenwart des Nature Writing“ und in meiner Poetik vor allem darum geht, wie Nature Writing ohne Esoterik, romantische Verklärung oder nationalistische Propaganda geschrieben werden kann, was ich gerade in Zeiten der Klimakatastrophe und der Faschisierung Deutschlands und Europas für enorm wichtig erachte. Aber vor allem geht es mir darum, einen Diskussionsbeitrag zu der Frage zu liefern, wie Natur geschrieben, sich ihr literarisch angenähert werden kann, ohne den Menschen zwingend in den Mittelpunkt zu stellen. Denn dann wäre er wieder nur Teil der Dichotomie Kultur vs. „Natur“ und keineswegs ein integraler Bestandteil der „Natur“. Er wäre im Schreiben erneut der „Natur“ entfremdet und vor allem der oder die Herrschende, was uns das derzeitige Dilemma erst eingebracht hat.
Wem würdest du unseren Band an die Hand geben?

Enno Stahl: Ich meine, unser Band ist aufschlussreich für allgemein Literaturinteressierte, insbesondere aber für Leute, die sich mit der Klimaproblematik befassen, theoretisch und praktisch. Hier wäre exemplarisch die Diskussion von Markus Wissen und Thomas Sablowski erwähnenswert, die einen umfangreichen Bogen spannt, um die politischen Implikationen der Klima-Thematik darzustellen. Studierende der Germanistik oder der Kulturwissenschaften können sich über den Wandel des Natursujets in der Literaturgeschichte informieren, etwa in meinem Beitrag oder dem von Julia Ingold, den Du bereits erwähnt hattest. Hier wird eine ganze Reihe von Beispielen genannt, wann und wie „Natur“ zu einem eigenen Sujet der Literatur wurde und welche Transformationen sich dabei feststellen lassen. Anglistik-Studenten werden in den Beiträgen von Hubert Zapf und Lena Pfeiffer fündig, tatsächlich beschäftigt unsere Thematik die anglo-amerikanische Literatur und eben auch die Anglistik schon deutlich länger, als sie hierzulande behandelt wurde. Last, but not least können die Texte für belletristische Autorinnen und Autoren interessant sein, die sich mit der Natur als Metapher und als Realmaterial beschäftigen, die theoretischen Zugänge könnten dabei ebenso fruchtbar sein wie der Blick in die Werkstätten von Autorenkollegen, in diesem Fall von Christian Schloyer und Zara Zerbe.

Zum Band „Literatur und ökologische Praxis“ hier.