Deutschland und Russland verbindet eine komplexe Beziehungsgeschichte, die sich insbesondere in ihrer literarisch-künstlerischen Ambiguität zeigt. Betrachtet man die letzten 100 Jahre, dann betrifft dies auf der politisch-kulturellen Ebene Entwicklungen, die ein erhöhtes Störungspotential markieren und die von der Oktoberrevolution 1917 über den Hitler-Stalin-Pakt bis zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik reichen, sodann die Blockbildung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands und die Veränderungen seit 1989/1990. Vor diesem Hintergrund gibt es vielfältige kulturelle wie literarische Äußerungsformen sowohl in der deutschen, aber auch in der sowjetischen bzw. russischen Literatur und Kultur. Von daher ist mit dem Zeitraum ab 1917 ein umfangreiches Bezugssystem aufgerufen, das keineswegs nur literatur- und kulturwissenschaftliche Fragen betrifft, sondern weltpolitische Dimensionen umfasst. Der Band sucht am Beispiel ausgewählter Ereignisse und Perioden unter die »äußere Kruste des Gewesenen« zu kommen, Gründe für verschiedene Auffassungen von der Welt zu erfassen und Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen zu motivieren. Die Beiträge des Bandes führen zurück in die Anfangsphase der Sowjetunion. In der Folge geraten die Entwicklungen in den 1920er und -30er Jahren mit Stalins Politik ebenso in den Blick wie die entscheidende Zäsur, die mit dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ab 1941 gesetzt wurde. In diesem Rahmen spielen Exil, Deportation und Kriegsgefangenschaft eine Rolle.
Nach 1945 folgten die Teilung Deutschlands und die Gründung der beiden deutschen Staaten, die – hier wie da – unterschiedliche Sichten motivierten. Schließlich wird gezeigt, in welcher Weise die deutschsprachige Gegenwartsliteratur maßgeblich auch durch eine junge »Generation« deutsch-russischer Autorinnen und Autoren mitgeprägt wird.
Der Band wird durch Stimmen von sechs Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – Anton Hiersche, Gusel Jachina, Joochen Laabs, Irina Liebmann, Katharina Martin-Virolainen und Waltraut Schälike –, die Vergangenheit und Gegenwart in den Blick bekommen, abgerundet.
Inhalt
Deutschland und Russland – Topographien einer Beziehungsgeschichte
Vorbemerkungen
Carsten Gansel
Schöpferische Aneignung und ideologische Instrumentalisierung
Zwei Jahrhunderte russische Literatur in Deutschland
Jürgen Lehmann
Der melancholische Reisende im Land der Oktoberrevolution
Walter Benjamins „Moskauer Tagebuch“ zwischen revolutionärer Utopie und historischer Desillusionierung
Heinrich Kaulen
Eskapismus in den Abgrund
Schreiben zwischen Russland und Deutschland, Stalinismus und Faschismus im Jahrhundert der Extreme
Werner Nell
Eine Rezeptionsgeschichte des Vergessens
Sergej Tretjakows Poetik der Operationalität in Deutschland
Stephan Pabst
Moderne contra Modernismus
Das widersprüchliche Vorbild der frühsowjetischen Literatur für die DDR-Literatur am Beispiel von Fëdor Gladkovs Aufbauroman „Cement“
Matthias Aumüller
Literarische Inspirationen und literarische Vermittlungen
Russlanddeutsche Intellektuelle zwischen 1917 und 1941
Tatiana Yudina
Russlanddeutsche Literatur und Gulag-Erfahrungen
Elena Seifert
Gerhard Sawatzkys „Wir selbst“ (1938/2020)
Der vernichtete Roman über die wolgadeutsche Republik in der Sowjetunion und seine Neuedition
Carsten Gansel
Deutsche Emigranten in der Sowjetunion und ihre Arbeit im Rundfunk
Eine journalistische Recherche
Hans Sarkowicz
Heinrich Gerlachs „Odyssee in Rot“ (1966/2017) und Widerstand gegen Hitler in der Kriegsgefangenschaft
Zur Gründung des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) und zu Aspekten seiner Bewertung nach 1949
Carsten Gansel
Reisen im Kalten Krieg
Hans Henny Jahnn, Wolfgang Koeppen und Leo Weismantel in Moskau (1956/57)
Andreas Degen
Kulturoperative Zusammenarbeit mit dem Bruderorgan
Ein Recherchebericht zur Zusammenarbeit von MfS und KGB/KfS auf der Linie Schriftsteller
Matthias Braun
„Der Name des Sterns ist Wermut“
Erzählstrategien deutschsprachiger AutorInnen über Tschernobyl zwischen Krisenbewältigung und Selbstinszenierung
Matthias N. Lorenz
Erinnerungstopographien und Listenpoetik in der deutsch-russischen Gegenwartsliteratur
Eva Hausbacher
Zeitfigurationen und hybride Vernetzungen im Werk Olga Martynovas
Manuel Maldonado-Alemán
Ein geopolitischer Gezeitenwechsel?
Überlegungen zur Reform des ›Petersburger Dialogs‹
Hauke Ritz
Der Weg nach Spasskoje Litowinowo
Joochen Laabs
„Wir haben kein Gegenüber, das ist so“
Ein Gespräch
Caroline Roeder und Irina Liebmann
„Diese Geschichte ist für mich sehr persönlich“
Ein Gespräch
Carsten Gansel, Mariya Kulkova und Gusel Jachina
„Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit unserem Herzen, wo diese ist“
Ein Gespräch
Nina Paulsen und Katharina Martin-Virolainen
„Wenn ich gebraucht werde, dann findet mich“
Ein Gespräch
Carsten Gansel und Waltraut Schälike
„Es war die glücklichste Phase …“
Ein Gespräch
Carsten Gansel und Anton Hiersche
Beiträgerinnen und Beiträger