15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, hat Erich Mühsam, der berühmteste deutsche Anarchist, sein Leben festgehalten: ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber und niemals langweilig. Was diese Tagebücher so fesselnd macht, ist der wache Blick des Weltveränderers. Mühsam wollte Anarchie praktisch ausprobieren. Anarchie hieß für ihn: Leben ohne moralische Scheuklappen, ohne Rücksicht auf Konventionen – und er bewies, dass es geht. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt, sie erscheinen in 15 Bänden – und zugleich als Online-Edition. Die von Chris Hirte und Conrad Piens gewissenhaft edierten Textbände werden im Internet unter muehsam-tagebuecher.de veröffentlicht, begleitet von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namenregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktionen – es entsteht eine historisch-kritische Ausgabe.In dem ersten Band geht es vor allem um Mühsams zentrale Rolle in der Münchener Boheme.
Erich Mühsam, geboren am 6. April 1878 in Berlin, war Dichter, Anarchist und politischer Publizist. Seit 1909 lebte er in München-Schwabing. Als zentrale Figur der Schwabinger Bohème war er befreundet mit Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger, Fanny zu Reventlow und vielen anderen.
Mühsam war Mitarbeiter des Münchner Kabaretts und verschiedener satirischer Zeitschriften wie des Simplicissimus und der Jugend. Von 1911 bis 1919 gab Erich Mühsam in München die Zeitschrift Kain heraus. Er war maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde.
1933 wurde er verhaftet und am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS-Wachmannschaft ermordet.
Chris Hirte war Mitherausgeber der Erich-Mühsam-Werkausgabe beim Verlag Volk und Welt (1978-1985). Seine Mühsam-Biographie erschien 1985 im Verlag Neues Leben. 1994 veröffentlichte er bei dtv München eine Auswahl aus den Tagebüchern. Seit 2009 arbeitet er gemeinsam mit Conrad Piens an der Gesamtausgabe der Tagebücher.
Conrad Piens ist Informatiker und Antiquar. Gemeinsam mit seiner Frau Irina betreibt er seit 1999 die Website www.muehsam.de, die u.a. eine umfassende Bibliographie zu Werk und Wirkung Erich Mühsams enthält. Neben der Herausgebertätigkeit sorgt er für die Aufbereitung der Tagebuchtexte für die Online-Edition und betreut die Website muehsam-tagebuch.de.
Mitreißende Tagebücher, die sich mit den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts messen können und bisher weitgehend unbekannt waren. Es bietet das richtige Mischungsverhältnis von privaten und öffentlichen Mitteilungen, ist Chronik des kulturellen und politischen Geschehens und ein Stück Sittengeschichte. Und der Klatsch aus der Münchner Kulturszene kommt auch nicht zu kurz. Wie schillernd diese Aufzeichnungen tatsächlich sind, erweist sich nun bei der Edition des ersten Bandes.
Volker Hage / Spiegel
Es dauert keine zehn Minuten – und der Leser ist dem Sog dieses Lebens, der Stärke und Eigenart dieses Charakters erlegen. Man hat ein Hauptwerk Mühsams vor sich, einen kleinen München-Roman und ein Dokument unbefangener, undogmatischer Freiheitsliebe. Der Text lässt sich auch im Internet nachlesen, dort kann man mit der Handschrift vergleichen, sich über Personen und Ereignisse informieren. Wo möglich, verweist der Kommentar auf Wikipedia. Das ist intelligent und leserfreundlich gemacht und jederzeit zu ergänzen.
Jens Bisky / Süddeutsche Zeitung
Wer ein Sitten- und Kulturbild jener Epoche aus dem besonderen Blickwinkel des politischen Außenseiters vermutet, liegt richtig. Wer anarchischen Sprengstoff erwartet, erst recht. Und das liest sich wunderbar sarkastisch und ironisch. Wer seine „Unpolitischen Erinnerungen“ kennt, weiß, dass Mühsam fast das gesamte Personal der Kunstbewegung kannte, die sich als Expressionismus etablieren sollte. Tag für Tag kann man so verfolgen, wie Mühsams Netzwerk wächst. Und man ist durch zahlreiche Anekdoten bereichert, die einem diese aufregende Zeit näher bringen als sogar Mühsams „Erinnerungen“ selbst.
Volker Hummel / Frankfurter Rundschau
Mühsam macht Spaß. Seine Tagebücher gewähren Einblick in ein ereignisreiches Leben, am Anfang des vorigen Jahrhunderts.
Birgit Güll / Welt
In diesen Tagebüchern aber findet der Schriftsteller Erich Mühsam zu sich selbst und erschafft ein einzigartiges Zeitdokument.
Klaus Birnstiel / Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein einmaliges zeitgeschichtliches Dokument.
Oliver Pfohlmann / Neue Zürcher Zeitung
Die Aufzeichnungen liefern ein großartiges Sittenbild der deutschen Kulturgeschichte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, mit allem Klatsch und Tratsch, in allen Finessen und Details.
Julian Schütt / Basler Zeitung
Und so sind diese Tagebücher vor allem eine außergewöhnliche Sittengeschichte, die die Weite des damaligen anarchistischen Denkens deutlich machen. Sie sind ein kulturgeschichtlicher Schatz und das literarische Vermächtnis des 1934 von den Nazis Ermordeten.
Andreas Fanizadeh / taz
Ein großes Vorhaben und der erste wirklich überzeugende Versuch, Buch und Internet plausibel und produktiv zu kombinieren.
Frank Dietschreit, rbb Kulturradio
Ein wunderbares Unternehmen. Eine Geisterbahn durch das erste Viertel des Zwanzigsten Jahrhunderts – und eine Fundgrube satirisch-literarischer Kostbarkeiten aus dem Grenzbereich von Bohème und Politik.
Jürgen Werth / WDR 5
Die Lektüre ist vergnüglich und erhellend.
Brigitta Lindemann / WDR 3
www.muehsam-tagebuch.de ist ein großartiges Tummelfeld für den Leser: Namen und Stichworte verweisen auf kurze Erläuterungen, auf Links zu ausführlicheren Informationen und auf Links zu jenen Tagebucheinträgen, in denen ebenfalls von dieser Person oder jener Sache die Rede ist. Eine Vernetzung, wie sie im Buche steht: Man kann die Tagebücher entlang einzelner Figuren oder Themen lesen oder sich einfach treiben lassen.
Katrin Schuster / der Freitag
Und jetzt muss eine verlegerische Großtat bejubelt werden: die Edition der Tagebücher des Anarchisten, Dichters und Räterevolutionäres Erich Mühsam, die der Verbrecher Verlag zugleich als Printfassung und online auf den Weg bringt. Mühsams Werk, das zeigt bereits der erste Band aus den Jahren 1910/11, stellt ein Zeitdokument ersten Ranges dar – das ironisch geschilderte Leben der Münchner Boheme zwischen Finanznöten, Erotik und Politik.
Elke Brüns / Tagesspiegel
Die trotzige Lebenslust, grimmige Selbstbeschau und die kluge Charakterisierung und Karikierung von Mitmenschen machen die 350 Seiten zu einer anregenden Lektüre.
Cornelia Geißler / Berliner Zeitung
Die Mühsam-Tagebücher zeichnen eindrucksvoll ein historisch-kulturelles Panorama, gleichzeitig liefern sie politische und ästhetische Reflexionen des ständig von Geldnöten geplagten Dichters.
Tobias Schwartz / Märkische Allgemeine
Was einen sofort reinzieht in die Tagebücher, ist Mühsams selbstverständliches Vermischen von Politischem und Privatem. Bei aller Überzeugung, dass ein Leben außerhalb der Gesellschaft möglich sei, kommt auch das Gesellschaftliche – in Gestalt von Klatsch aus der Münchner Bohème – nicht zu kurz.
Sebastian Fasthuber / Falter
Das macht die Tagebücher so ungemein lesenwert, weil sie ganz ohne die Phrase der Agitation auskommen, sondern Erich Mühsam ganz unverstellt, manchmal fast naiv, manchmal mit Forscherneugier schildert, was ihm widerfährt.
Tomas Fitzel / SR 2 KulturRadio
Das mutigste Buch dieses Herbstes (…) Und sein Tagebuch ist Literatur. Es ist Krankenakte („Der elende Tripper“), kommentierte Geschichte und Kunstkritik („Ich ging mit einigem Misstrauen an den beinah 600 Seiten Wälzer heran – aber ich bin angenehm enttäuscht“). Politik und Gossip. Ernst und komisch.
Maren Keller / KulturSPIEGEL
Der erste Band (1910 – 1911) macht uns zum Zeugen der Existenz eines Künstlers in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in der Schwabinger Boheme, in Kaffeehaus, Kabarett und Theater. (…) Faszinierend wie der kulturgeschichtliche Inhalt der Notate ist die Form. Denn der Verbrecher Verlag nutzt das Internet-Potenzial nicht bloß zu mehr oder minder offener Werbung durch Textauszüge. (…) Stattdessen erscheint zusammen mit der Print-Ausgabe deren vollständige Online-Publikation.
Volker Gransow / KULTURATION – Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Im ersten nun publizierten Band der Mühsam-Tagebücher entsteht das Panorama einer ganz eigenen Gesellschaft, die in ihren Grundzügen aber überraschend vertraut wirkt. Zudem kann man in dem Mühsam des Tagebuchs einen liebenswürdigen Menschen entdecken; einen scharfsinnigen Kommentator seiner Zeit. Sein Ton kann innerhalb weniger Sätze umschlagen: von dem Horror, den er wegen des Geldmangels empfindet, in die zärtliche Sprache des Verliebten.
Christoph Braun / fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung