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Von Erich Mühsam

Niederschönenfeld, Montag, d. 25. Dezember 1922.

Mein viertes Festungs-Weihnachten. Gestern – am Heiligen Abend – war ich ernstlich krank. Ob’s vom Herzen ausgeht, dieser Zustand vollständiger hilfloser Schwäche, bei dem die Füße nicht tragen wollen und die Därme nichts halten mögen, oder ob eine Darmvergiftung Voraussetzung ist für die übrigen Erscheinungen, die mit Fieber, Schweißausbrüchen, Gürtelgefühl, allgemeinem Versagen der Physis – den Durchfall und Brechreiz begleiten, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls war der Zustand gestern wieder mal recht arg und verleidete mir das Fest gründlich, das im übrigen angenehmer verlief als im vorigen Jahr, wo die Duske-Schweinerei grade in Flor war. Ein Krach-Intermezzo gab es auch. Wir hatten – die weitaus große Mehrheit aller Genossen – zusammen einen Weihnachtsbaum von der Verwaltung bezogen (die ihn „äußerst billig“ für 200 Mark lieferte). Da man uns vorgestern wieder den nach Rain zu liegenden Gang des Stockwerks abgesperrt hat – die dort noch untergebrachten Genossen wurden in die Zellen Hartigs, Glaßers und Liebls verstaut, dessen Sachen man in eine Zelle des gesperrten Ganges schloß (woraus zu schließen ist, daß dieser Mann mindestens nicht vor dem Abgang eines weiteren Genossen wieder unter uns zu erwarten ist), konnte der Baum nur am Ende des Mittelgangs einen guten Patz finden. Daran nahm aber Egensperger Anstoß, und es gab großes Geschrei, weil man die 5 nicht um Erlaubnis gebeten habe. Das Ende vom Liede – ohne Keile ist es glücklicherweise abgegangen – war, daß Egensperger zum Vorstand zitiert wurde, der ihm mit Einzelhaft gedroht haben soll, von der er nur wegen des Weihnachtsfestes absehe, (übrigens ist Schiff vorgestern von seiner Einzelhaft wieder heraufgekommen). So war diese Tragödie denn glücklich beigelegt. Da die Ergiebigkeit der Weihnachtsgaben diesmal nicht so reichlich war wie früher, mußten wir die Idee, im größeren Kreise eine Fresserei zu machen, aufgeben. Unsere Tischgesellschaft (Toller, Klingelhöfer, Ringelmann, Weigand und ich) vereinigte sich jedoch zu einer Mahlzeit, die wir zum guten Teil durch Barkäufe ermöglichten. Doch gab es überraschendes Nebenwerk, da Klingelhöfer gebackene Schnecken beisteuern konnte und auch ein guter Schnaps vorhanden war. Der Hauptgang war paniertes Schnitzel und Nudeln. Wir haben Tanzmaier zur Teilnahme zugezogen. Ich selbst war kaum imstande, etwas zu mir zu nehmen und ging bald – kurz nach 7 Uhr – zu Bett, um nicht die fröhliche Stimmung der übrigen durch meine Klakrigkeit und mein zusammengesunkenes Dabeisitzen zu trüben. Das war recht ärgerlich, da bis ½ 11 Licht und Betrieb war und ich grade am meisten sonst unter dem Zwang leide, schon um 9 Uhr ins Bett zu müssen. Die Verwaltung benahm sich im allgemeinen in diesem Jahr toleranter als früher. Die Schnapsflaschen wurden im ganzen hinaufgegeben, und es wurde gestern und heute sogar die Post ausgegeben. – Die Hoffnungen auf Weihnachtsentlassungen sind fast alle zusammengebrochen. Die Genossen vom Mitteldeutschen Aufstand sind nach wie vor ohne die geringste Nachricht, was aus ihnen wird. Hingegen erhielt Daudistel grade noch am Tage vor Weihnachten – zur Erhöhung der Festtagsfreude – wieder die Ablehnung eines Gesuchs unter Hinweis auf die früher geltend gemachten Gründe, worunter sich auch der befand, daß der Tatbestand, auf den sich das Urteil stützte, auch angenommen, er sei unzutreffend gewesen, nichts zur Sache tue, die Höhe der Strafe (6 Jahre) wäre auch sonst angemessen erschienen. – Aber eine „Begnadigung“ ist doch erfolgt. Bedacht erhielt gestern die Mitteilung, daß er am 17. Januar auf Bewährungsfrist bis 1928 entlassen wird. Er rettet dadurch 1 Jahr 11 Monate. Zu dieser Eröffnung hat Bedacht einen schriftlichen und einen mündlichen Kommentar erhalten, von denen gesprochen werden muß. Die Entscheidung des Würzburger Volksgerichts ist ein Dokument von eminenter Wichtigkeit für uns, da die wahre Gesinnung der bayerischen Justiz noch in keinem amtlichen Aktenstück so durchsichtig niedergelegt ist. Zunächst schon wird die Bewährungsfrist diesmal ausdrücklich vom Wohlverhalten draußen abhängig gemacht und an die Bedingung geknüpft, B. müsse sich jeden „politischen Heraustretens“ enthalten. Er hat also nicht erst dann das Nachbrummen zu gewärtigen, falls er eine Neuverurteilung von mindestens 3 Monaten Freiheitsstrafe verwirkt, sondern schon bei jedem öffentlichen Auftreten, und Herr Hoffmann hat ihm das unten noch extra dahin ausgelegt, daß er noch nicht einmal eine Festrede auch nur in einer Gewerkschaftsversammlung halten dürfe, widrigenfalls er auf der Stelle verhaftet würde. Das Volksgericht führt dann die Gründe an, die es zu seiner Gnadenbezeigung bewogen hat, und da sagt es ganz offen heraus: Es ist glaubhaft gemacht, daß Bedacht von seinen extrem-radikalen Ansichten zurückgekommen sei, der Strafzweck sei also erreicht. – Früher schon hatte Kraus erklärt, man möge sich „bessern“, wie etwa jener Reichardt, dann sei der Strafzweck erreicht und er könne für bedingte Begnadigung eintreten. Jetzt ist diese Auffassung in einem Amtsschriftstück beglaubigt, und wir haben die ungeheuerliche Tatsache vor uns, daß als Strafzweck für die zu Ehrenhaft Verurteilten in Bayern die Brechung ihrer Gesinnung ausdrücklich von einem Gericht bestätigt ist. Dadurch erklärt sich alles. Selbstverständlich ist der gesamte Strafvollzug dem Strafzweck untergeordnet und angepaßt. Die ungeheuerliche Brutalität unsrer Behandlung, die vollständige Loslösung unsrer Gefangenschaftsformen von jeder Gesetzlichkeit, von jedem geschriebenen Recht, ihre gänzliche Einstellung auf Qualen und physisches Leiden soll unsre Überzeugungen ändern. Man traut unsern Charakteren nicht zu, auf die Dauer all den Folterungen gewachsen zu bleiben, die in steter Steigerung über uns verfügt werden, – und eben diese ständige Steigerung und Vermehrung der Qualen erweist sich nun als Folgerichtigkeit in einem klar erdachten System. Unsre Strafe ist nicht mehr Vergeltung – obwohl dem Rachebedürfnis der ausführenden Organe weitgehende Erfindungsfreiheit gewährt wird; sie ist Unschädlichmachung von Feinden. Wir sind Feinde auch hier im Gefängnis noch. Und nun wird auch die Sonderbehandlung Arcos als logische Konsequenz dieser Auffassung klar. Der Mann, der in der bayerischen Republik seine monarchistische Überzeugung in seinem Meuchelmord aktiv genug bekundet hat, hat bei den Sachwaltern dieser Republik den Beweis erbracht, daß er die erwünschte Gesinnung hat. Es gibt also auch keinen Strafzweck bei ihm mehr zu erreichen, und so wird die Strafe, zu der er der Form wegen verurteilt bleibt, an ihm in Formen vollstreckt, die sie als Strafe eliminieren. Wir stehn da Rechtsbegriffen gegenüber, die schon im alten Rom überholt waren. Wenn diese eklatanten Beweise der Sittenverwilderung in Bayern propagandistisch nur richtig ausgenützt werden! Mir ist das Erstaunlichste an alledem nur immer die vollständige Sinnesgleichheit der Rechtshüter in diesem Lande, für die die tollsten Rechtsbeugungen allesamt die größte Selbstverständlichkeit sind. Sehr interessant ist, was Hoffmann Bedacht noch mündlich zu alledem hinzugesetzt hat, und was Bedacht in voller Naivität erzählt, ohne zu merken, was für Ungeheuerlichkeiten er damit aufdeckt. Die Gnade, die ihm erwiesen werde, sei unermeßlich. Grade er habe sich schon während des Krieges mit den Verrätern verbunden, die das Unglück Deutschland vorbereiteten, also das schwerste Verbrechen gegen das Vaterland begangen, das denkbar ist (Bedacht wurde zu einer hohen Strafe verurteilt wegen Meuterei im Kriege, die 1918 amnestiert wurde. Die Refus, die Daudistel dauernd bekommt, dürften auch damit in Verbindung stehn, daß er bei dem Reichpietschunternehmen 1917 in Wilhelmshafen beteiligt und verurteilt war). Er, Bedacht, habe später sich dann wieder der Umsturzbewegung angeschlossen und damit neue schwere Schuld auf sich geladen, unter diesen Umständen sei also seine Entlassung ein Beweis ganz außergewöhnlicher Gnade etc. – Die Auffassung, daß die Strömungen, die während der Weltmetzelei schon den hoffnungslos verfahrenen Krieg zuende zu bringen suchten, verbrecherisch waren, ist so sehr Axiom bei diesen Menschen, die doch objektiv sein sollen von Berufs wegen, daß kein entfernter Gedanke sie jemals daran zweifeln läßt. Sie setzen als selbstverständlich voraus, daß wir selbst ebenfalls finden müssen, daß wir Verbrecher waren, als wir unsre letzte Hoffnung auf menschliche Zustände in der Revolution suchten. Der Gedanke gar, daß die Lage des deutschen Volks unnennbar viel glücklicher wäre, wenn die Revolution früher gekommen wäre, wenn eine der Ordnungswidrigkeiten in der Armee oder der Flotte zu einer wirklichen Sabotage des Kriegs geführt hätte, wenn schließlich die Konterrevolution von 1919 bezwungen worden und die Revolution zur wirklichen Erneuerung des sozialen Lebens geführt worden wäre, – dieser Gedanke liegt ihnen viel zu fern, als daß sie überhaupt begreifen könnten, daß jemand anders ihn haben könnte. Wer ihn aber hat, der ist für sie ein Verbrecher, der zu dem ausgesprochenen Zweck bestraft werden muß, daß er sich bessere und daß seine Überzeugungen gebrochen, also seine Seele durch Quälereien am Körper abgestumpft werde. Das sind die Rechtsbegriffe, die zur Zeit in Bayern Geltung haben und sich rückhaltlos auswirken. Diese Aufklärung hat mir die psychologische Einsicht in die Mentalität unsrer Kerkermeister außerordentlich vertieft, infolgedessen auch meinen subjektiven Groll gegen die Einzelnen gemildert, indem sie die objektive Unversöhnlichkeit in ihrer ganzen Schärfe aufgedeckt hat. Das Kapitel Klassenjustiz – das bedeutet, daß Menschen einer Welt von solchen einer andern, die garkeine Berührungspunkte mit jener hat, gerichtet werden – hat einen neuen Kommentar erhalten. Ich weiß jetzt sicherer als je, daß der Kampf gegen den Staat mit allen seinen Rechtsinstitutionen – ein Kampf, der noch garnicht eigentlich begonnen hat – sich in den Formen abspielen wird, die sich aus der Erkenntnis ergeben, daß die Gegenseite für Logik und Überredungsgründe ohne jegliches Organ ist. Der Beweis dafür ist unser Schicksal. Solange die Reaktion uns physisch in der Gewalt hat, wird sie nicht nachlassen uns zu peinigen, damit wir ihr auch psychisch unterliegen. Diese Erkenntnis ist nicht eben erhebend, wohl aber so nützlich, daß ich mit ihrer Gewinnung mit dem Weihnachtsertrag 1922 zufrieden bin.

 

Aus: „Tagebücher 12. 1922–1923“ von Erich Mühsam, herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens

Siehe auch: www.muehsam-tagebuch.de