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Blog

Von Milo Rau

Mein Großvater, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Organisator von Lesungen tätig war, rief an einem Tag in den frühen 1950er-Jahren Thomas Mann an, ob er bei ihm auftreten wolle. „Kommen Sie nach Amriswil“, sagte mein Großvater zu Thomas Mann, „und lesen Sie was aus dem Doktor Faustus vor. Ich könnte Ihnen hundertfünfzig Franken plus Spesen anbieten.“ Denn aus Heimatliebe veranstaltete mein Großvater die Lesungen nicht in Zürich oder immerhin in Frauenfeld, der Thurgauer Kantonshauptstadt, sondern in Amriswil, einem morbiden Fabrikdorf in der Nähe des Bodensees.
Thomas Mann antwortete: „Gern. Aber wo liegt Amriswil?“
Als ich heute früh am Concierge vorbeiging, um in mein Büro hochzufahren, las ich statt Concierge das Wort Connecticut. „Wieso Connecticut?“, fragte ich mich. Im Fahrstuhl fiel mir auf, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo Connecticut eigentlich lag. Während ich noch darüber nachdachte und den radikal konstruktivistischen Schluss zog, dass es ohnehin nicht feststellbar sei, ob Connecticut außerhalb meines Kopfes existierte oder nur ein Phantasma meines Geistes sei (womit die genaue Lage keine Rolle mehr spielte), stieg eine Frau von vielleicht siebzig Jahren zu. Nach einer kurzen Begrüßung hielt sie zu meiner Überraschung eine längere Rede über den Herbst. Diese Jahreszeit, sagte sie mir, sei für sie „die schönste, die frischeste, aber auch die traurigste“, da ihr Mann in einem Herbst gestorben sei. Sie sprach mit einem angenehmen ostdeutschen Akzent, ziemlich laut, als stünden noch andere Leute dabei. Um sie zu trösten, sagte ich: „Auch mich, der keine Toten zu beklagen hat, macht der Herbst traurig. Immerhin gelegentlich.“
„Nein!“, rief die Frau, „wenn Ihre Liebsten noch leben, dann dürfen Sie nicht traurig sein!“
Ich lachte also und sagte, es sei nur ein Scherz gewesen. In der Höhe des zwölften Stockwerks entwich der Frau, die, wie sie mir erzählte, eigentlich nach unten hatte fahren wollen, ein kleiner schwefliger Furz. Ich fragte mich, wie er unter ihrem glockenförmigen Kleid hervor einen Weg hatte finden können. „Fürze sind findig“, reimte ich im Stillen.
In meinem Büro fiel mir ein, dass der Geruch nach Schwefel auch ein Hinweis auf einen epileptischen Anfall sein konnte; deshalb die Behauptung von Besessenen, sie seien dem Teufel begegnet. Ich dachte ernsthaft darüber nach und entschied, die Frau im Fahrstuhl sei real gewesen und habe tatsächlich gefurzt. Eben hatte ich mich über einen Band Luhmann hergemacht, da klingelte mein Telefon. Es war ein befreundeter Journalist. Er sei ein bisschen wütend, sagte er. Er fühle sich hintergangen, und dies auf eine Art und Weise, dass er sich nicht wehren könne. Seine Freundin habe ihn eben mit einem Kalabrien-Urlaub überrascht, und er hasse Kalabrien fast noch mehr als Sardinien. Sardinien, ja, Sardinien sei irgendwie geil, natürlich nur außerhalb der Saison. „Leere. Weite. Steilküsten. Nihilismus. Mediterrane Klarheit“, erklärte er, „Camus.“ Aber Kalabrien sei ihm, wie jedem denkenden Menschen, zuwider.
„Kalabrien“, echote ich.
„Und? Was hast Du so vor?“, fragte er.
„Ich will die Macy Conferences von Kindern nachspielen lassen.“
„Die was?“
„Die Macy Conferences“, wiederholte ich geduldig. „Die Gründungskongresse der Kybernetik. Frühe 1950er-Jahre. Hochspannend.“
„Und worum gehtʼs?“
„Um alles Mögliche. Wie lässt sich ein künstliches Bewusstsein bauen? Ist die Wirklichkeit wirklich? Was heißt Rückkoppelung für den Alltag? Können Maschinen lieben? Gibt es Individualität?“
„Verstehe.“
„Ja, diese ganze Thematik eben.“
„Und das willst du von Kindern nachspielen lassen?“
„Von Erstklässlern, wenn möglich.“
„Wo findest du die?“
„Wen?“
„Die Erstklässler.“
„Keine Ahnung. In Schultheatern. Es gibt so viele schauspielernde Kinder in Berlin.“
Ich erzählte weiter von der Sache. Irgendwann sagte mein Bekannter: „Das Projekt ist sicher ganz lustig.“ Aber ihm würde dieses Kybernetik-Revival je länger je mehr auf die Nerven gehen. Überhaupt habe er die Faxen langsam dicke. Vor drei Jahren seien der Neosituationismus und die Arbeitslosen dran gewesen, vorletztes Jahr der Operaismus und die Klimakatastrophe, letztes die Multitude und die Vergreisung Deutschlands, und jetzt also wieder mal die Kybernetik. „Immer die Kybernetik!“, schrie er. „Immer der Punk! Immer die 80er! Immer die Informationsgesellschaft! Immer die Realität! Immer das Imaginäre! Immer die Aussage! Immer die Verweigerung! Immer Osteuropa! Immer Afrika! Immer die Kommunikation! Immer das Geheimnis! Immer das Wissen! Immer die Intuition! Immer das Unfertige! Immer die Präzision! Immer der Kapitalismus! Immer der Untergang Amerikas!“ Er holte tief Luft und sagte: „Die wahren künstlerischen Themen sind meiner Ansicht nach: die Zukunft, das Wirtschaftssystem, die Macht und das Primitive. Darin fühle ich mich der klassischen Moderne verwandt.“
„Die Zukunft des Wirtschaftssystems?“, fragte ich dazwischen.
„Die Zukunft und das Wirtschaftssystem.“
„Was willst du über die Zukunft groß erzählen?“, blaffte ich. Die Art, wie er das Und betont hatte, machte mich aggressiv. „Die Zukunft ist – ich zitiere mal Heisenberg – die Zukunft ist eine Blackbox. Ein schwarzer Kasten. Keine Ahnung, was drin ist. Ja? Die Zukunft ist die reine narzisstische Kraftmeierei. Da können wir gleich Neofuturisten werden und die Chaostheorie in der Pfeife rauchen. Die Frage ist nur: Macht das künstlerisch Sinn? Will das überhaupt noch jemand sehen? Haben wir was damit zu tun? Und was die Wirtschaft angeht: Warum sollen wir zwei halbgebildete Würstchen so tun, als würden wir die Börse verstehen? Warum tun wir ständig so, als hätten wir Ahnung von irgendwas?“
„Na ja, die Macy Conferences verstehst du vermutlich auch nicht so ganz“, konterte er, „außer auf so eine verworrene, indirekte …“
„Aber die Erstklässler! Die Kinder!“, rief ich. „Das ist ja der Witz! Hör dir mal diesen Satz an: ‚Mein genetisches Erbe wurde ein für alle Mal durch die Begegnung einer Samen- mit einer Eizelle festgelegt. Jede meiner Zellen weiß, wie ich herzustellen bin; noch bevor sie eine Zelle meiner Leber oder meines Bluts ist, ist sie deshalb eine Zelle von mir.‘ Ist das nicht grandios? ‚Eine Zelle von mir‘ – ist das nicht schöner als Celan? Und jetzt stell dir das mal aus dem Mund eines …“
„Weißt du was? Ich finde das grausam egozentrisch. Die Kinder müssen sonst schon genug auswendig lernen.“
„Wieso? Wenn wir die Zeit haben, lasse ich sie noch ein kleines Interview zwischen Godard und Fritz Lang nachspielen.“
Wir redeten noch eine Weile so weiter, bis wir beide unabhängig voneinander merkten, dass es an der Zeit war, damit aufzuhören. Wir verabschiedeten uns, indem wir uns versprachen, uns demnächst anzurufen, um uns zu verabreden, und ich las wieder Luhmann. „Man muss darauf gefasst sein“, schrieb Luhmann in seinem unnachahmlich verkrampften Stil, „dass es in absehbarer Zeit zu atomaren Explosionen kommen wird, die den Erdball verwüsten. Das wäre zweifellos ein markantes, einschneidendes, epochenwirksames Ereignis. Vorher und nachher ließe sich deutlich unterscheiden.“
Als ich diese Sätze las und sich vor meinem inneren Auge Atompilze türmten, packte mich ein unwiderstehliches Verlangen nach den 1980er-Jahren. Ich hatte seit 1989 nicht mehr an die Atombombe gedacht, und da war ich gerade zwölf Jahre alt gewesen. Helligkeit, Wut und eine kraftvolle Traurigkeit um die Welt durchtosten mich. Datenströme rasten mein Rückgrat hinunter, verkrampften die Unterschenkelmuskeln und richteten die Zehenspitzen himmelwärts.
Wie ein Süchtiger griff ich nach Thomas Meineckes Mode & Verzweiflung und las sein berühmtes Pamphlet, mit dem er – ohne es damals selbst zu wissen – im Jahr 1981 das glorreiche kybernetische Jahrzehnt eröffnet hatte: „Nur die dümmsten und also die meisten unserer Generationsgenossen machen uns immer wieder den Vorwurf, Faschisten oder Kommunisten zu sein. Während diese dümmsten und dennoch bemerkenswerten Generationsgenossen ihr endgültiges Weltbild schnell erreicht haben, überprüfen wir Kybernetiker unsere Denk- und Handelsweisen durch ihre Anwendbarkeit auf die Moderne Welt, welche ja ihrerseits in permanentem Wandel ist; und so müssen wir unsere Wachsamkeit in Spiel und Revolte der ständig veränderten Situation anpassen: Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie. Dies nennen wir Freiwillige Selbstkontrolle. Es gilt, gerade die Sensibelsten Westeuropas für die Revolte zu gewinnen. Die Schwierigkeit ist nur, von den Sensibelsten das Härteste zu fordern.“
An dieser Stelle musste ich kurz auflachen. „Linksfaschist“, zischte ich. Und noch einmal: „Linksfaschist.“ Ich hatte dieses lustige Wort noch nie laut gesagt. Aber Meinecke hatte alles völlig richtig formuliert. Wieso sollten die Sensiblen nicht mal hart sein? Wieso sollten immer nur die Unsensiblen hart sein? Wem war eigentlich damit gedient? Ich erinnerte mich an einen kleinen Urlaub, den ich vor zehn Jahren in der Bretagne gemacht hatte, im westlichsten Dorf Frankreichs: Le Conquêt. Dort warf ich mich mit einem Taucheranzug ins Meer, denn ich war irgendwie zur Überzeugung gekommen, dass Europa große Veränderungen bevorstanden. Stählern musste man werden. Bereit musste man sein. Tagsüber las ich, abends trank ich mit ein paar deutschfeindlichen Meeresbiologen Wein und Schnaps. Um sie zu provozieren, behauptete ich, mein Großvater sei bei Stalingrad gefallen. Sie brausten auf, sie tobten, aber einer stellte sich auf meine Seite und sagte: „Sein Großvater hatte keine Wahl.“ Ich nickte heftig, leibhaftig sah ich meinen imaginären Großvater vor mir, wie er nach Osten marschierte. Mir traten die Tränen in die Augen, wie ich so allein im Gewühl dieser Meeresbiologen stand, ohne Großvater. Unter perfekter Verwendung des Konjunktivs sagte ich: „Hitler hätte ihn erschießen lassen, wenn er nicht nach Stalingrad gegangen wäre.“
Mein richtiger Großvater war, als mein erfundener von einer russischen Kugel getroffen wurde, damit beschäftigt, vom Amriswiler Kirchturm aus die Bombardierung Friedrichshafens zu beobachten. Verbrannte Zeitungen wehten bis auf die Schweizer Seite, und die Menschen fuhren mit kleinen Booten auf den See hinaus, wo sie sich, sagte mein Großvater, „noch in den Booten auf den Boden legten.“ Er erinnerte sich an all diese Kleinigkeiten, ganz plastisch, aber so, als hätten sie eine tiefere Bedeutung gehabt. Das war immer so bei ihm: Alles Äußerliche war für ihn ganz äußerlich und trotzdem ein Symptom von etwas völlig Innerlichem, Verborgenem. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der erzählen konnte wie er.
In seinen Tagebüchern widmete Thomas Mann dem Besuch in Amriswil (der übrigens ungefähr gleichzeitig zu den Macy Conferences stattfand und ein großer Erfolg war) eine ganze Seite. Er lobt die Apfelplantagen und beklagt sich, dass das Amriswiler Publikum immer nur Auszüge aus den Buddenbrooks habe hören wollen und an der „modernen Wortkunst“ seines Faustus keinen Gefallen gefunden habe. „Sein ganzes Leben lang hat er aus den Buddenbrooks vorlesen müssen“, lachte mein Großvater. Besonders aber freute ihn die Passage, in der Thomas Mann ihn und meine Großmutter als „warmherziges, citierendes Schweizer Studentenpaar“ bezeichnete. Denn mein Großvater hatte weder studiert noch war er ein geborener Schweizer, sondern hatte sich beides als Autodidakt angeeignet.
Als Thomas Manns Tagebücher irgendwann in den 1980er-Jahren erschienen, schickte mein Großvater uns eine Kopie der betreffenden Seite. Meine Mutter, der die Angebereien ihres Vaters schon seit ihrer frühesten Kindheit auf die Nerven gingen, sagte: „Dass er einen so kurzen Eintrag in einem so dicken Buch hat finden können – Respekt.“ Ich aber konnte es nicht fassen, dass der Name meiner Familie in einem Buch stand. So wie irgendein anderes Wort (Haus, Paris, Sonne), das jemand vor langer Zeit erfunden hatte.
Was bleibt noch zu sagen? In regelmäßigem Rhythmus folgen Zeitalter der Ironie und der Melancholie aufeinander. Poesie und Prosa liefern sich pausenlos Gefechte um das Reich der reinen Anschauung. Die Wahrheit tritt nicht in unser Leben, um uns mit Küssen und Tränen zu wecken, aber wir alle sind unruhig, wir alle sind bereit. Manchmal denke ich: Die Welt ist nicht groß, sie ist ein kleines Zimmer, umgeben von Abgründen. Darin sitze ich und sehe aus vierzig Metern Höhe auf Berlin hinab.

25.9.2008
 

Aus dem Band „Althussers Hände“ von Milo Rau, herausgegeben von Rolf Bossart