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Blog

Von Giwi Margwelaschwili

Wir sehen eine dunkle Schlucht, wo tief unten ein Gedichtweltgebirgsbach sich fauchend durch die Enge wälzt. Über einen schmalen Steg eilt gerade das lyrische Ich. Es will zu seiner Liebsten.

Aber da erscheint vor ihm, gerade in der Mitte der kleinen schwingenden Brücke, sein Leser. Der Steg ist so eng, daß es für sie unmöglich ist, aneinander vorbeizukommen.

„Aus dem Weg!“ befiehlt der Lyrische.

„Nie im Leben und Lesen“, sagt der Leser seelenruhig, aber auch laut, denn der Lärm des Gedichtgebirgswasser ist groß. So stehen sie sich ein paar Sekunden gegenüber.

Der Lyrische ist ratlos. Zurückgehen kann er nicht. An so was ist er nicht gewöhnt, denn Gedicht- und überhaupt Buchweltmenschen existieren ja nur, indem sie vorwärts, ihren thematischen Zielen entgegen leben.

Was ist das für ein merkwürdiger Leser? denkt der Lyrische verzweifelt. Bis jetzt folgten die Leser mir immer auf dem Fuß, und ich kam jedesmal glücklich zu meinem Schatz. Warum steht dieser hier vor und nicht hinter mir? Das ist doch gegen jede Lese-Lebensregel!

Aber weil er in thematischer Eile ist, will er den anderen nichts fragen, und so schreit er zornig (obwohl es komisch klingt): „Ich will zu meiner Liebsten, hörst du?“

„Und ich komme von deiner Liebsten“, erklärte ihm der Leser frech. Dabei grinst er spitzbübisch. Nein, er ist ganz bestimmt ein sehr ekelhafter Vertreter seiner Gattung.

„Wa…wa…was hast du bbbbei ihr gemacht?“ fragt der Lyrische, dem nichts Gutes schwant, tonlos, aber immer noch laut genug, um durch das Getöse des Stromes vernehmbar zu sein.

 „Ich habe sie gelesen“, antwortet der Leser, häßlich lachend. „Was denn sonst?“

„Aber…aber…“, stottert der Lyrische mühsam, „du kannst sie doch nur lesen, wenn ich bei ihr anlange und sie in meine Arme schließe. Das ist der normale Verlauf der Lese-Lebensbewegung in unserem Gedicht!“

„Na und?“ Der ekelhafte Leser zuckt gleichmütig mit den Schultern und sagt dann: „Ich treibe es eben andersherum. Willst, ja kannst du mir das vielleicht verbieten?“

Schweigen

„Aber wie hat sie sich nur von dir lesen lassen!“ schreit der Lyrische hysterisch. „So was geht doch nicht, weil es nirgends geschrieben, nicht textlich besiegelt ist!“

„Ich lese, wo, man, wie und wen ich will“, verkündet ihm der Leser stolz. „Hier lese ich gegen den thematischen Strom, kapiert?“

„Das ist wider die Natur!“ schimpft der Lyrische zornig. „Schäme dich!“

„Ich denke gar nicht daran“, sagt der Leser fröhlich. „Und warum findest du das Gegen-den-Strom-Lesen so unnatürlich? Ich finde es lustig.“

Du Schuft! denkt der Lyrische. Aber er kann nichts machen. Er muß, weil der Leser ihn jetzt rückwärts liest, über den Strom nach hinten retirieren und den Leser, als das Ufer erreicht und Platz dafür ist, an sich vorbeilassen.

„Auf Wiedersehen!“ ruft der ihm noch zwinkernd zu, bevor er weggeht.

Aber der Lyrische wünscht ihn zum Teufel. Ein Wiedersehen mit so einem widerlichen Leser?, denkt er grimmig, Gott behüte mich davor! Und hat vielleicht auch Recht damit, nicht wahr?

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