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Blog

Von Milo Rau

 

Liebe Jury, liebe Christina, sehr geehrte Damen und Herren,

aufgrund der Umstände habe ich es in den vergangenen Jahren leider nie geschafft, zum Stückemarkt in Berlin zu sein. Vor drei Jahren war ich in Zürich, um die „Zürcher Prozesse“ zu organisieren, vor zwei Jahren in Brüssel für die Endproben von „The Civil Wars“, vergangenes Jahr, als ich selbst in der Auswahljury saß, war ich in Zentralafrika unterwegs fürs „Kongo Tribunal“ – an dessen Berliner Teil dann übrigens Kathrin Röggla, die dieses Jahr Mitglied der Jury ist, als Gerichtsschreiberin teilnahm – und aktuell bin ich in Belgien, um mit 7 Kindern ein Stück vorzubereiten über den Pädophilen Marc Dutroux. Während Sie das hier hören, läuft gerade die Generalprobe.

Ich habe noch mal in die letztjährige Auswahl des Stückemarkts geschaut. Damals schrieb ich in der Festivalzeitung zur Bekanntgabe der von uns ausgewählten Texte und Projekte:

„Vielleicht ist das Jahr 2015 das Jahr, in dem der Autorbegriff sich endgültig von all den Fesseln befreit hat, die seine selbsternannten Verteidiger ihm immer wieder anzulegen versuchen. Projekt oder Stück, Verteidigung einer Form oder ihre Kritik: Mir scheint, wir sind an einem Punkt der Theatergeschichte angekommen, an dem das keine Rolle mehr spielt. Was soll man zum Beispiel über einen Daniel Cremer sagen, diesen verrückten, genialen Typen, der sich noch einmal voll gerüstet aufs Streitross der postmodernen Ironie setzt und mit dem „Talking Straight“ Festival tatsächlich ein ganzes Festival geschaffen hat, auf dem anhand einer erfundenen mitteleuropäischen Sprache das Theater und all seine Rituale (Publikumsgespräche, Ibsen-Adaptionen, sogar die Indie-Bands im Abendprogramm) in das überführt werden, was sie sind: kompletter Unsinn und erhaben ragende Gipfel der Weisheit der europäischen Urbevölkerung? Ist es nicht faszinierend, ja fast verstörend, dass im Jahr 2015 noch – oder wieder? – so tiefenentspannt geplottete und sprachlich klare Werke der Kapitalismuskritik entstehen wie „Hose Fahrrad Frau“ des Deutschen Stefan Wipplinger oder „Zersplittert“ von der Rumänin Alexandra Badea? Und sind „The State“ des Bulgaren Alexander Manuiloff oder „Another great year for fishing“ des Belgiers Tom Struyf nun klassisch oder avantgardistisch zu nennen, sind es die Arbeiten von Autor-Regisseuren oder von Autoren, die keine Regisseure mehr brauchen, sondern nur noch ein Publikum? Vollenden all diese Arbeiten ihr Genre oder verabschieden sie sich von ihm? Und falls zweites zutrifft: wohin? Und von welchem Genre überhaupt?“

Und ich fügte hinzu:

„Ich hoffe, dass unsere Auswahl einigermaßen repräsentativ ist für diesen (wie ich ebenfalls inständigst hoffe) Todesjahrgang der albernen Autoren-Diskussion, die den Stückemarkt schon so lange und völlig ohne Gewinn begleitet.“

Als ich die diesjährige Auswahl durchgeguckt habe – übrigens des 50. Jahrgangs seit der Verkündigung des „Tods des Autors“ in dem gleichnamigen Text von Roland Barthes aus dem Jahr 1967 – da wurde mir klar, dass meine Hoffnung wahr geworden ist: der Autor als normativer und im Kern auf Literatur abzielender Begriff ist tot, auferstanden ist er als eine Art Dachbegriff für alles Mögliche, was im Rahmen des Theaters stattfindet. Mehr, so denke ich, sollte er auch nicht sein. Es gibt 2016 im Rahmen des Stückemarkts drei szenische Lesungen und drei Performances, und ich habe den Eindruck, dass die Jury noch um einiges avantgardistischer entschieden hat als wir vor einem Jahr: Es ist nur ein Stück aus dem deutschsprachigen Raum dabei (und es handelt, so lese ich, vom Genozid an den Armeniern). Höchstens eines, vielleicht zwei der Projekte würde der normale Theatergänger (falls es ihn gibt) überhaupt noch als Theaterstück wahrnehmen, würde man es (was hoffentlich geschehen wird) auf diesen oder jenen Spielplan setzen.

Doch lassen Sie mich trotzdem, gewissermassen als Grabgesang anlässlich des 50. Jubiläums des Todes des Autors fragen: Was ist eigentlich ein Autor? Was ist einer, der ein Werk hervorbringt? Zu wem spricht dieser eine oder diese Gruppe? Und mit welcher Stimme?

 Es gibt ein Zitat von, glaube ich, Che Guevara, das ich sehr mag: „Die Geschichte findet uns dort, wo wir geboren wurden.“ Was mich persönlich angeht, so bin ich aufgewachsen in der Schweiz, und seit 15 Jahren lebe ich aus Gründen der Liebe und der Arbeit hauptsächlich in Deutschland und Belgien. Was bin ich also? Ich glaube, ich bin und ich bleibe ein Schweizer Autor. Es bleibt ein Teil schweizerischer Blindheit in dem, was ich tue. Schweizerischer Gier, schweizerischer Selbstgerechtigkeit, schweizerischer Kleinherzigkeit. Ich bin meinen Ängsten, meinen Vorurteilen, meinem Körper, meinem Land genauso ausgeliefert, wenn ich schreibe oder inszeniere oder reise, wie beim Einkaufen oder im Zustand des Träumens. Denn was ist ein Theaterstück anderes als das Zeugnis der Zufälle und Zwangsvorstellungen, die sich während der Proben herausgebildet und als besonders wirkungsmächtig erwiesen haben? Von den politischen und emotionalen Absichten, den Aversionen, aber auch vom Großmut der Beteiligten, die indirekt, verschleiert, in Sprech- und Spielweisen gehüllt, präsentiert werden und zweifellos den Beteiligten selbst unklar sind? Ist nicht jeder Inhalt, jede Form zufällig, nur ein kluges Alibi, um „in den Saft zu kommen“, wie die Schauspielerin Ursina Lardi so schön sagt? Kündet der Akt der Autorschaft nicht ausschliesslich von dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, Liebe, Respekt und Klarheit zu erlangen für die kurze Dauer eines Abends, eines Buchs, eines Films? Warum spreche ich hier, warum hören Sie zu?

Worauf ich hinaus will: Ich weiß es nicht, und Sie wissen es vielleicht ein bisschen besser, aber auch nicht richtig. Wir wissen nicht, warum uns das, was wir hier gerade tun, wichtig ist, warum wir darauf beharren, warum wir auf dem Theater beharren. Aber wir tun es. Sollte man also die Triebkraft unserer Obsession nicht anerkennen als das, was sie ist: nämlich kindisch, blind, obsessiv, ja: vorpolitisch? Die seit einigen Jahren dogmatisch gewordene Forderung, dass der Künstler mit einer deutlichen und reinen Stimme zu sprechen habe, dass er der Gesellschaft vorangehen, sie zu provozieren, je nach seinem Charakter auf satirische, hysterische oder ernsthafte Art an ihre Grundwerte, ihre Geschichte, ihre Verbrechen, ihre Traditionen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten erinnern soll, ist mir deshalb, so verständlich sie mir als Bürger ist, als Künstler unheimlich. Ich – das, was ich mein „Ich“ nennen will – ist völlig unpolitisch, denn dieses „Ich“ ist kein Subjekt, es ist ein Objekt. Wer spricht, wenn ich spreche, anderes als jene Konstellation, jener Körper, der in einem zufälligen Jahr, in einem zufälligen Land, von dem, was wir Geschichte nennen, überrascht wurde? An dem vielleicht morgen Krebs diagnostiziert wird, der vielleicht auf der nächsten Recherche-Reise von einem kongolesischen Millizionär oder einem Kämpfer des IS ermordet wird – und der diese Krankheit oder diesen Tod genauso hinnehmen wird und hinnehmen muss wie alles, was ihm widerfährt?

Wir haben uns daran gewöhnt zu behaupten – und ich denke, der Stückemarkt des Theatertreffens ist einer der exponierten Orte dieser Überzeugung in Europa –, dass die Idee einer von Könnerschaft und Begnadetheit befreiten Autorschaft, nachdem sie sich so lange im Dunkeln gedulden musste, der Durchbruch gelungen ist. Auch ich behaupte das, ich bestehe sogar darauf, denn ich hasse die billige, die von Stand und Biographie geschenkte Arroganz der Gebildeten und Ausgebildeten. Doch die Idee der Teilnahme und der Kunst als maximal offenen Ort des demokratischen Diskurses, so nützlich sie im Rahmen der Vernichtung des bürgerlichen Autorbegriffs war, ist dabei, diese Freiheit wieder einzugrenzen, ja: sie zu delegitimieren. Es ist nicht nötig – und im Übrigen auch nicht möglich –, dass wir, nachdem wir uns in 50jähriger Kleinarbeit vom Autor befreit haben, uns nun auch von seiner Blindheit, seiner Ziellosigkeit, seiner Zufälligkeit, seiner unendlichen Begrenztheit befreien. Denn vor jeder Sprache oder jeder Theaterpraxis, vor jeder Politik ist ein Autor, dieses sich selbst hervorbringende Wesen, nämlich nicht mehr als ein Symbol des Menschen: dieses zugleich bornierteste und vielfältigste Ding, das es gibt – dieses Durcheinander, diese Verlorenheit, die wir nur mit jenem beharrlichen geistigen Aktivismus parieren können, den wir Kunst nennen.

Was wäre aber ein systematischer, ein kollektiver und damit eben: politischer Ausgang aus dieser Verlorenheit? Was wäre das „Wir“, das das „Ich“, auf dem ich doch beharren will, rettet, es aufhebt, es zu mehr macht als einer moralischen Prüfung? Roland Barthes vergleicht in „Der Tod des Autors“ den Schreibenden – und fügen wir hinzu: den Inszenierenden, den Spielenden – mit einer Figur in der Tragödie, den Leser jedoch mit dem Betrachter dieser Tragödie. Der Leser – und fügen wir hinzu: der Zuschauer – ist es, schreibt Roland Barthes, der über die Blindheit des Autors oder Spielers, mit der dieser gewisse Themen verfolgt und andere nicht, der sich gerade so und nicht anders bewegt, der mit gerade diesen Worten und nicht jenen spricht – der also über all dies hinweg die tragische Stummheit des Autors vernimmt: Der, wenn ich spreche, das hört, wovon ich nicht spreche. Der meinen Akzent hört, meinen Haarschnitt und meine Müdigkeit sieht, der sich über meine Rechthaberei oder die Rechthaberei des Textes, den ich ablese, aufregt. Der intuitiv versteht, was mich als Schweizer, als Europäer, als Theatermacher, als Mann, als Produkt meines Milieus und meiner Biographie begrenzt, bedingt und gefangen nimmt. Es ist der Leser, es ist der Zuschauer, der den Überblick herstellt, der den Text oder das Stück und damit die Autorschaft erst politisiert, und zum Ereignis macht.

Womit ich zum Schluss zur Figur des Zuschauers, also des „Wir“, zur Frage der Öffentlichkeit und des Kollektivs komme. Das war zu erwarten: Die Bedeutung von dem, was wir mit „Autor“ meinen, der Streit um ihn wurde in den 50 Jahren seit Roland Barthes’ Essay von einer tragischen in eine demokratische, von einer erhabenen und hermetischen in eine Sphäre der Teilhabe überführt. Dieser Übergang lässt sich an der jährlich wiederkehrenden Diskussion um die Auswahl des Stückemarkts ablesen: Kaum jemand interessiert sich noch, um was es in den Projekten geht. Interessant ist, wer ihr Autor ist, woher also diese Projekte kommen, wie sie entstanden sind und auf welche Weise sie die Zuschauer ansprechen. Das ist gut so, aber gerade als Zuschauer sollten wir auf der Dialektik dieser Konzepte – also von Begriffen wie Projekt, Kollektiv, Wir – beharren und sie immer wieder neu herstellen. Nehmen wir zum Beispiel den Begriff des „Kollektivs“, wie er seit etwa 10 Jahren im Theater in Mode ist: Dem kleinbürgerlichen Bewusstsein gilt das Kollektiv an sich schon als demokratisch und damit per se als gut. Für mich jedoch ist die Kraft eines Kollektivs erst dann künstlerisch, wenn es in der Wirklichkeit nicht – oder noch nicht – vorkommt. Wenn es ein unmögliches, ein unerhörtes, ein unerfülltes Kollektiv ist. Wenn der Autor, um seine eigene tragische Blindheit zu überwinden, sich nicht einfach mit den Menschen zusammenschließt, die zufällig in der gleichen Institution oder dem gleichen Milieu arbeiten, also ihn in seinen Überzeugungen bloss multiplizieren, sondern sich auf die Suche macht nach Koautoren, die nicht vorgesehen sind von den Institutionen und ihrer Geschichte. Wenn er sich mit Leuten zusammenschließt, die maximal von ihm selbst entfernt sind, die ihn nicht verstehen, die vielleicht sogar seine Feinde sind. Die keine Ahnung von ihm haben, die ihn missbrauchen, ihn einspannen für ihre eigenen Pläne, ihn vor den Augen der Welt lächerlich machen und erniedrigen. Die ihm in Freundschaft oder in Hass verbunden sind oder einfach deshalb, weil ihr Kampf derselbe ist.

Ich habe am Anfang von ein paar Projekten gesprochen: vom „Kongo Tribunal“, das ich mit Minenarbeitern, Rebellen, Managern und Politikern in Afrika gemacht habe. „The Civil Wars“, das ich mit Salafisten und Schauspielern in Brüssel inszenierte und das sich vom maximal Politischen ins maximal Private wandelte, ohne dass ich es hätte verhindern können. „Die Zürcher Prozesse“, für die ich Schweizer Rechtsradikale und Linksintellektuelle in einem Prozess versammelte, nur um am Ende den Rechtsradikalen mit 6 zu einer Stimme zu unterliegen. Und aktuell das Pädophilie-Stück „Five Easy Pieces“, für das ich mit flämischen Kindern arbeite und das mir, über ein halbes Jahr hinweg, klar gemacht hat, warum es Theater gibt, wie beschränkt und doch machtvoll das Konzept der Einfühlung und der Figur ist, wie groß unsere Blindheit ist und wie berechtigt doch unsere Hoffnung auf Erlösung, auf eine gute Zukunft, auf Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Nie habe ich mehr erfahren über Europa als im Nahen Osten oder in Zentralafrika. Und nie habe ich mehr darüber gelernt, was es heisst, eine Meinung zu haben, als in meinen inszenierten Auseinandersetzungen mit Rechtspopulisten.

Worauf ich hinauswill: Das Theater und unsere Gesellschaft zu schützen gegen ihre Feinde, die auch meine Feinde sind, kann nicht heißen, die ideologische Unvoreingenommenheit, die blanke Kindlichkeit des Theaters zu leugnen. Es kann nicht heißen, den Raum des Theaters einzuengen auf eine Gesinnungsübung, so gut und hilfreich diese auch sein mag, um die aktuelle Krise des zivilisatorischen Projekts Europa zu überstehen. Natürlich, am Ende des Tages muss man Haltung beziehen, am Ende des Tages mag man gezwungen sein, ein Manifest zu unterzeichnen, in den Untergrund zu gehen oder jene zu unterdrücken, die der eigenen Meinung entgegen stehen – denn mir ist sehr wohl klar, dass in jeder politischen Handlung ein Gutteil Stalinismus liegt, der Wunsch nach einer reinen Doktrin, befreit von aller Dummheit, allen Ängsten und aller Arroganz, die aber doch nur menschlich sind. Theater ist alles, es ist alle von uns, oder es ist nichts und niemand. Deshalb macht es – metaphorisch gesprochen – keinen Sinn, ein Shakespeare-Festival zu veranstalten und nur die nette Ophelia und die kritische Laientheatergruppe aus „Hamlet“ einzuladen, weil alle anderen Figuren offensichtlich eingebildete, elitäre, wirre, gewalttätige, infantile, bizarre und gestörte Arschlöcher sind. Kunst hinnehmen heißt akzeptieren, dass alles, was menschlich ist, zugleich zuviel ist, um es zu verstehen, und doch so unlösbar an seine Bedingungen und sein jeweiliges Wesen geknüpft, dass es tragisch durchschaubar ist und – ja, leider ist es so – auf die Nerven geht.

Doch was rede ich da? In der diesjährigen Jury sitzen ja keine Nur-Regisseure oder Nur-Schriftsteller oder Nur-Theoretiker oder Nur-Aktivisten – was alles allein schon viel wäre – sondern eben das, was ich selbst, nachdem der Autor ja tot ist, nun abschließend als Autor bezeichnen will: Menschen, die in immer neuen Zusammenhängen arbeiten und doch auf ihren ganz eigenen Wegen unterwegs sind. Jede und jeder Autor eines beeindruckenden Werks und darüber hinaus Menschen, die ich schätze und bewundere.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit der zweifellos grandiosen Auswahl, die Sie Ihnen in den nächsten Tagen präsentieren werden.

 

Rede, gehalten im Mai 2016 zur Eröffnung des Stückmarkts des Berliner Theatertreffens. Eine gekürzte Version erscheint am 6.9.2016 in der NZZ – Neue Zürcher Zeitung.